Haeckel, Ernst, Prinzipien der generellen Morphologie der Organismen

(Berlin :  G. Reimer,  1906.)

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xvn!                         IX.  Metagenesis und Strophogenesis.                          227

derjenige Charakter, den wir oben als den entscheidenden hingestellt
haben, fehlt denselben. Bei allen Phanerogamenstöcken entspringt
aus der geschlechtlichen Zeugung ein Sproß (Blastus), also ein Form-
Individuum fünfter Ordnung, welches durch wiederholte ungeschlecht¬
liche Zeugungsakte, nämlich durch unvollständige äußere Knospen¬
bildung, zahlreiche andere Sprosse erzeugt, die zu einem Stocke oder
Cormus vereinigt bleiben. Dieser Cormus ist aber ein einziges Form¬
individuum sechster und höchster Ordnung, und als solches zugleich
das physiologische Individuum (Bion), welches als konkrete Lebens¬
einheit die Art repräsentiert oder das SpeziesgUed bUdet. Da nun
dieser Stock selbst wieder geschlechtsreif wird, oder da, genauer aus¬
gedrückt, unmittelbar aus den integrierenden Bestandteilen dieses
Stocks, nämlich aus den geschlechtlich differenzierten Personen (Blüten¬
sprossen), der Same amphigen erzeugt wird, welcher dem Stocke selbst
den Ursprung gibt, so haben wir den ganzen Zeugungskreis als einen
einfachen hypogenen Generationszyklus aufzufassen. In der Tat haben
wir vom Ei bis zum Ei die vollkommen geschlossene Formenkette
des einen physiologischen Individuums, welches als Stock aus einem
Ei entsteht und selbst wieder Eier zeugt. Der gewöhnUche Zeugungs¬
kreis der Phanerogamen ist also ebensogut ein einfacher hypogener,
wie derjenige der Wirbeltiere.

Die Ansicht, das der Entwickelungskreis der Phanerogamenstöcke
auf einem echten Generationswechsel beruhe, würde dann richtig sein,
wenn der Sproß (Blastus) das physiologische Individuum derselben
wäre. Dies ist aber nicht der Fall, wie wir im dritten Buche gezeigt
haben. Vielmehr ist der Sproß, welcher als Formindividuum fünfter
Ordnung bei den Wirbeltieren in der Tat das physiologische Indivi¬
duum bildet, bei den Phanerogamen nur ein untergeordneter Bestand¬
teil des Stockes oder Cormus, welcher hier als Formindividuum
sechster Ordnung die physiologische Individualität repräsentiert. Und
da der letztere sich allerdings durch ungeschlechtliche Zeugungsakte
entwickelt, aber lediglich durch geschlechtliche Zeugungsakte fort¬
pflanzt, so ist unzweifelhaft der gewöhnUche Generationszyklns der
Phanerogamen keine Metagenesis, sondern einfache Hypogenesis, wie
bei den Wirbeltieren. Der Unterschied zwischen beiden besteht nur
darin, daß die physiologische Individualität hier durch ein morpholo¬
gisches Individuum fünfter, dort aber sechster Ordnung repräsentiert
wird. Als echten Generationswechsel, als wirkliche Metagenesis
können wir bei den Phanerogamen nur jene Fälle auffassen, in denen

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