Riemann, Hugo, Musikalische Dynamik und Agogik

(Hamburg :  D. Rahter,  1884.)

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48        n.    Ehythmische Bildungen durch Zusammenziehun.o^ mehrerer Zähleiuheitcn.
 

IL KapiteL

Rhythmische Bildungen durch Zusammenziehung
mehrerer Zähleinheiten«
 

§ 12.    Zweizeitige Zusammenziehung im zweitheiiigen
und dreitheiligen Takt.

Die Zusammenziehung vermindert die Lebendigkeit, sie setzt an Stelle
zweier Töne von verschiedener Tonhöhe oder an Stelle der geforderten zwei
maligen Angabe desselben Tones einen lang ausgehaltenen Ton: aus § 3 wissen
wir, dass damit auch das crescendo und diminuendo in ihrer Wirkung ab¬
geschwächt werden, weil durch die Beseitigung eines Tonanfangs ein Anlass
zur Vergleichung der Tonstärke-Grade wegfällt. Diesem Verluste an Energie
im kleinen steht aber als Ersatz gegenüber ein Gewinn an Gravität; die lang¬
samer einherschreitende melodische Bewegung ist würdevoller, ernster und ver¬
mag daher trotz verminderter Leidenschaftlichkeit eine äusserst nachdrückliche
Gewalt zu äussern. Durch fortgesetzte Zusammenziehung zweier Zähleinheiten
zu längeren Tönen würden diese letzteren die Bedeutung von Zähleinheiten ge
winnen; der veränderte ästhetische Werth der Motive würde dann nur auf das
veränderte Tempo zurückzuführen sein (vgl. z. B. das in halben Noten gehende
Schlussthema des ersten Satzes von Beethoven's Sonate, op. 10, 3). Wo da¬
gegen einzelne Zusammenziehungen den glatten Fluss der metrischen Einheiten
hemmen, ist die Wirkung eine wesentlich andere. Die durch die Kontraktion
geschaifenen Längen werden zur Folie für die doppelt so schnellen metrischen
Einheiten und diese erscheinen, auch in langsamem Tempo, als Repräsentanten
des Lebendigen, Belebenden; allerdings ersclieinen andererseits die Längen auch
als hemmend, lastend, erschlaffend: der erstere Eindruck ist aber entschieden
der tiberwiegende; die aus Längen und Kürzen gemischten Motive erhalten eben
durch diesen Wechsel ein besonderes Interesse. Wenn der glatte Verlauf der
melodischen Bewegung in gleichen Werthen das Metrum am reinsten zur
Geltung bringt, so beruht das Wesen des Ehythmus in dem Wechsel von
Tönen verschiedener Dauer. Das durch die wechselnde Geschwindigkeit der
Tonfolge innerhalb eines festsehenden Schemas neu hinzukommende Moment ist
in der Wirkung der dynamischen und agogischen Schattirung verwandt, aber
weit vielgestaltiger als diese. Ueber das Niveau der durch das Metrum ge
gebenen Bewegungsgeschwindigkett erheben sich die tanzenden Wellchen der
Untertheilungen, während die Zusammenziehungen einen tiefer gJBhenden Wogen¬
schlag bringen.

Die zweitheiligen Taktarten verlieren  durch die Zusammenziehung
zweier   Zähleinheiten   zu   einer   die   einzige   Tonhöhenveränderung;   die   dem
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