Riemann, Hugo, Musikalische Dynamik und Agogik

(Hamburg :  D. Rahter,  1884.)

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110            I^'   Uebergreifende Zusammenziehung untergetheilter Zähleinheiten.

das Anschauungsvermögen ausserordentlich stärken und bleibend die Phan¬
tasie befruchten muss. Von einer grösseren Anzahl der besten und interes¬
santesten Formen aber werde eine Erfüllung mit melodischem Inhalt
verlangt, da erst dadurch das volle Verständniss der ästhetischen Bedeutung
der einzelnen Ehvthmen sich erschliessen kann.
 

IV. Kapitel.

Uebergreifende Zusammenziehung untergetheilter

Zähleinheiten,
 

§ 24.   Engere Verkettung der Taktglieder durch Ueberbrückung der
Scheiden der Untertheilungsmotive, zunächst im zweitheiligen Takt.

Alle im vorigen Kapitel betrachteten Untertheilungen hielten sich innerhalb
des Werthes einer Zähleinheit, derart, dass der Beginn einer neuen Zähleinheit
stets durch einen neuen Ton markirt wurde. Wir mussten aber unterscheiden
zwischen anbetonter und abbetonter oder inbetonter Untertheilung, die erstere
ergab einfache, die letztere komplizirtere, wenigstens im Eahmen der Taktstriche
und gemeinsamen Querstriche innerhalb der Takthälften u. s. w. in der Noten¬
schrift komplizirter scheinende Bildungen.    Ehythmen wie:

i Ü \ fkJ f Ü

1                    2

erscheinen dem Auge als übergreifende Untertheilungen, sofern durch die Takt¬
striche und die Querstriche (! -T \) andere Grenzen gezogen erscheinen als sie
die dem Ohre sich bietenden Tonbilder (t^ij ) fordern. Nimmt man die ersteren
als massgebende Einheiten, so sind allerdings die letzteren übergreifende Bil¬
dungen: wir haben aber dieses ganze Buch der Ausrottung einer solchen irrigen
Auffassungsweise gewidmet, welche die herkömmliche metrische Theorie aller¬
dings grossgezogen und fast sanktionirt hat. Die vor der Zählnote auftretenden
Tonwerthe sind aber nichts anderes als ein Auftakt niederer Ordnung. So wenig
die Taktform 3 • |* | |* ' ^ * | f auf die volltaktige ^ | j* f T I bezogen und
in ihrem Sinne aufgefasst werden darf, ebenso wenig dürfen auftaktig be¬
ginnende Untertheilungen im Sinne anbetonter aufgefasst werden. Dagegen
werden wir jetzt zu Bildungen übergehen, die wirklich übergreifend sind,
d. h. die Scheiden der Untertheilungsmotive überbrücken und unkenntlich
machen, obgleich viele von ihnen in der Notenschrift als schlichteste Bildungen
erscheinen.
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