Riemann, Hugo, Musikalische Dynamik und Agogik

(Hamburg :  D. Rahter,  1884.)

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43.   Schlichte Polyrhythmik (Polymetrik).                                  191

d. h. der Bass hält zunächst noch das Motiv der Sequenz streng fest, schiebt
es aber wieder nach oben statt nach unten, während die Oberstimme die Sequenz
nur noch theilweise (unter Festhaltung des ^^") mitmacht, bis endlich in dem
mit forte bezeichneten Takte völlige Freiheit der Bewegung eintritt und ein
wirklicher Schluss gemacht wird.

Wo also eine Sequenz auftritt, wird nicht allein die harmonische Schluss¬
bildung hinausgeschoben, sondern oft auch das metrische Gleichgewicht ge¬
stört, sofern ganz erhebliche Verlängerungen der Phrasen durch dieselbe bewirkt
werden. Die natürliche Dynamik der Sequenz ist ein zähes festhalten
an der einmal eingeschlagenen Richtung, sei diese die positive (crescendo)
oder die negative (diminuendo); ein wenden des crescendo zum diminuendo
wird erst deim Uebergang zur freien Bewegung statthaft erscheinen. Die dyna¬
mischen Verschiedenheiten der Taktmotive, welche aus der Festhaltung melo¬
discher Motive in andertheiliger Taktart entstehen, untersuchten wir bereits im
§ 39; es versteht sich, dass dieselben auch dann zu Recht bestehen bleiben,
wenn alle Stimmen in denselben Konflikt mit dem Takte treten, d. h. bei der
Sequenz.

Dass das Motiv der Sequenz häufig genug verkehrt aufgefasst wird, nämlich
meist voUtaktig, sei nicht vergessen anzumerken; es ist das ja nichts anderes
als ein Symptom des Kardinalfehlers, dessen Ausrottung dies Buch bezweckt.
Es versteht sich, dass die für die Auffassung der rhythmisch-melodischen Motive
überhaupt geltenden Gesichtspunkte in vollem Masse für die Sequenzmotive
gelten (lange Noten oder Pausen als Ende, Untertheilungen als Anfang, Sprünge
der Melodie als Grund der Trennung u. s. w.).
 

IX. K a p i t e L

Polyrhythmik^
 

§ 43.    Schlichte Polyrhythmik (Polymetrik).

Die einfachste von der Homorhythmik, d. h. der gleichmässigen Rhythmisirung
sämmtlicher Stimmen eines mehrstimmigen Satzes (Note gegen Note) abweichende
Bildung ist die, dass eine Stimme (oder mehrere) sich in den Werthen der Zähl¬
zeiten bewegt, während eine andere dieselben gleichmässig untertheilt und viel¬
leicht eine dritte nur in den Werthen höherer Einheit (Motivwerthen, Taktwerthen)
fortschreitet:

im  rm  nn  jm
 

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