Riemann, Hugo, Musikalische Dynamik und Agogik

(Hamburg :  D. Rahter,  1884.)

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49.   Motiv-Verkettung.                                                 243
 

X. Kapitel.

Phrasirung.
 

§ 49.   Motiv-Verkettung.

Vergleichen wir die einfachen Taktarten (2, 3) mit den zusammengesetzten
(2. 2, 2. 3, 3. 2, 3. 3, 4. 3), so erscheinen erstere offenbar als die Keimbildungen
aus denen sich letztere entwickeln, d. h. die Vorzeichnung einer der grösseren
Taktarten giebt für eine über die einfache Motivbildung hinausgehende grössere
Gruppenbildung direkte Bestimmungen, insofern sie zwei, drei oder vier einfache
Motive zusammenschliesst. Allerdings erweisen sich die 6, 9, 12 oder gar noch
mehrtheiligen Taktarten bei näherer Betrachtung in der Eegel als nur zwei-, drei-
oder vierzähl ige, während man es vorzieht, die mehrzähligen Taktarten in kleinere
Takte zu zerlegen; gerade diese Möglichkeit verschiedener Schreibweise muss uns
aber für die Auffassung von Taktfolgen den Schlüssel geben, d. h. wir dürfen in
ihnen nichts anderes suchen, als eine Erweiterung desselben Prozesses der Gruppen¬
bildung, der zunächst die einfachen Taktarten ergab. Die ungemein schwankende
Terminologie der metrisch-rhythmischen Verhältnisse bezeichnet gewöhnlich die
Gruppen der zu höherer Einheit zusammengehörigen Takte als Ehythmus, und
man spricht daher von zwei-, drei- oder viertaktigen Ehythmen (ritmo di due,
tre, quattro battute); der einfache Takt heisst italienisch misura, französisch
mesure^ aber was wir speziell als Ehythmen bezeichnet haben, heisst auch in
anderen Sprachen so, nämlich die durch Wechsel längerer und kürzerer Töne
oder Pausen entstehenden Tonbilder. In neuerer Zeit ist es gebräuchlich ge¬
worden, die höhere Einheit, zu welcher Taktmotive zusammenwachsen, Phrase*)
zuvnennen, wodurch der Doppelsinn des Wortes Ehythmus beseitigt wird. Die
Lehre von der Phrasenbildung lässt zunächst eine Fassung zu, welche nur auf
die Metrik Bezug nimmt; wir wissen aber bereits, dass die rhythmischen Umge¬
staltungen des Metrums für die Auffassung der Motivanfänge und -Enden und
demzufolge auch der Phrasenanfänge und -Enden bestimmende Bedeutung ge¬
winnen. Wir wollen uns daher des unfruchtbaren Schematismus entschlagen,
nach Art der im ersten Kapitel aufgestellten Tabellen hier lange Eeihen er¬
weiterter metrischen Schemata einzurücken, dürfen vielmehr versuchen, gleich
ausgerüstet mit dem ganzen Apparat der Ergebnisse der vorausgegangenen
Kapitel sowohl in metrisch-rhythmischer als harmonisch-melodischer Hinsicht
die Frage der Phrasenbildung nach allen Seiten hin umsichtig zu ventiliren.
 

*) J. P. A. Schulz, der Verfasser des Artikels: „Vortrag" in Sulzer's ,Theorie der
schönen Künste' (1772) braucht bereits diesen Ausdruck, doch scheint derselbe später wieder
in Vergessenheit gerathen zu sein.

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