Brunn, Enrico, Denkmäler griechischer und römischer Sculptur

(München :  F. Bruckmann,  1888-1947.)

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552.
 

552. Archaischer attischer Kopf.

Paris, Louvre.
 

Monument et memoires (Fondation Piot),
1900, VII, p. 143 ff., pl. XIV (Lechat). Dort ist
die ältere Litteratur aufgezählt, aus der hervor¬
zuheben: Monuments grecs, 1878, p. 1 ff., pl. I
(Dumont). Rayet, monuments de l'art antique I,
pl. XVIII. Collignon, histoire de la sculpture
grecque I, p. 360, fig. 182. Furtwängler, Samm¬
lung Saburoff, Text, p. 4 f. Philios, 'Ecprifa. äpx*
1889, p. 124 ff. Bulle, der schöne Mensch,
Taf. 34. Ehemals im Besitze des französischen
Diplomaten Herrn Georges Rampin. Seit 1896
im Louvre. 1877 in Athen gefunden'), nach
den einen Angaben auf der Akropolis, nach
andern im Asklepieion. Wahrscheinlich sind
beide Nachrichten falsch, sicher nur die Her¬
kunft aus Athen. Inselmarmor. 0,29 m hoch;
die Statue, zu der der Kopf gehörte, war etwas
unterlebensgross. Zahlreiche Farbspuren haben
sich erhalten. Haar und Bart waren rot bemalt.
Auch der Schnurrbart war durch rote Farbe
angedeutet, ohne plastische Unterlage; eine fein
eingerissene Linie bezeichnet den Umfang dieser
Färbung. In gleicher Weise trennt ein Kreis an
den Augäpfeln die schwarze Pupille von der
roten Iris, und oberhalb der Augenbrauen deutet
eine feine geschwungene Linie die Färbungsgrenze
dieser Teile an. Ob sie schwarz oder rot getönt
waren, lässt sich nicht mehr feststellen. Die
Lippen, heute farblos, waren jedenfalls ursprüng¬
lich rot. Die schmückenden Teile des Kopfes
prangten also in reichster Farbenzier, deren vor¬
herrschende Nuance rot war. Von einer Fär¬
bung oder Tönung des Fleisches selbst haben
sich keine Spuren erhalten. Auf dem Scheitel
der Rest des eisernen Stachels, der dazu bestimmt
war, die Vögel von der Beschiputzung des
farbigen Bildwerkes abzuhalten.

Die Statue, zu der der Kopf gehörte, hatte
nicht mehr das völlig gleichmässige und un¬
bewegte Schema der ältesten sog. Apollofiguren.
Denn der rechte Kopfnicker ist stärker gespannt
als der linke, die linke Schulter etwas gehoben,
der Kopf war also leicht nach seiner Linken hin
gewendet.   Für Motiv und Bedeutung der Statue
 

Die thatsächlichen Angaben  nach Lechat a. a. O.
 

selbst aber lässt sich daraus nichts schliessen^).
Die Züge wie auch die Haartracht sind ausser¬
ordentlich individuell; man wird dem Kopfe
zum Mindesten so viel Porträtcharakter zuge¬
stehen müssen als der Mehrzahl der xöpai der
Akropolis. Der Kranz im Haar, dessen Laub
ein französischer Botaniker als das der griechi¬
schen Eiche bestimmt hat, war jedenfalls ein für
den Träger charakteristisches Attribut. Vielleicht
ist der Priester einer Gottheit, der die Eiche
heilig war, dargestellt.

Von besonderem Interesse aber ist der Kopf
in stilistischer Beziehung. Zwei Kunstweisen
treffen unvermittelt in ihm auf einander. Auf
der einen Seite, in den einfachen und dabei
flieischstrotzenden Formen des Gesichtes, in den
quellenden Augen, den üppigen Lippen, den wie
mit dem Messer aus Holz geschnittenen flächigen
Ohren, die echte attische, aus der Porostechnik
hervorgegangene Kunstart des Kalbträgers, der
Diskophorenstele. In schroffem Gegensatze zu
dieser einfachen und bei aller Fülle zurück¬
haltenden Formengebung steht die der Natur
widersprechende, überzierlich reiche, manierierte
Art, wie Bart- und Haupthaar, namentlich die
Löckchen an Stirn und Schläfen, wiedergegeben
sind. Statt ein lebendiger, organischer Bestand¬
teil der Gesammterscheinung zu sein, ist das
Haar auf die Stufe eines toten, stilisierten Orna¬
mentes herabgedrückt. Ja, man fühlt sich that-
sächlich mit Rayet an das gefettete Lockengerüst
auf dem Haupte eines nubischen oder abyssini-
schen Häuptlings erinnert. Aber es liegt kein
ernstlicher Grund zur Annahme vor, dass hier
der Angehörige eines afrikanischen Volksstammes
dargestellt sei. Die decorative Erstarrung, das
ungriechisch anmutende Stilgemisch in dem Kopfe
lässt sich auf anderem Wege leichter erklären. Als
in der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts
die attischen Bildhauer, die von Alters her in
der Technik des Schneidens in  weichem Stein
 

2) Furtwängler a. a. O.: „der Kopf stammt vermut¬
lich von der Statue eines vom Beschauer nach links
schreitenden Mannes in langem Gewände, dessen Körper
im Profil gebildet war, dessen Kopf aber den Beschauer
ansah".
 

Denkmäler griech. u. röm. Sculptur
Taf. 552.
 

Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G.
München 1903.
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