Brunn, Enrico, Denkmäler griechischer und römischer Sculptur

(München :  F. Bruckmann,  1888-1947.)

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556.
 

556.   Archaische weibliche Statue

Athen^ Akropolismuseum.
 

Museumsnummer 67L 1887 beim Erechtheion
ausgegraben. Lechat, au musee de l'Acropole,
p. 356ff.; p. 153, fig. 9. MvrilLisia Tf\q 'EAAdboq,
Tafel XXI (mir noch nicht zugänglich). Winter,
athen. Mitt. 1888, p. 134 f. Collignon, histoire
de la sculpture grecque I, p. 344, fig. 173.

Etwas über Lebensgrösse. Pentelischer Mar¬
mor J). „Beide Unterarme sind eingezapft ge¬
wesen. Der rechte war vorgestreckt, wohl etwas
schräg nach oben. An der Aussenseite des
herabhängenden linken Oberarmes unten ein
Stiftloch. Dieser Stift ging horizontal von aussen
her durch den Zapfen hindurch, mit dem der
Unterarm im Oberarm befestigt war, und hielt
ihn fest. Die Glutäen sind in ganz grober
Spitzung weggemeisselt, auch die Gegend
zwischen den Schulterblättern ist gespitzte
Fläche: es geht daraus hervor, dass man bemüht
war, hinten eine ebene Fläche herzustellen;
die Figur stand also wohl dicht vor einer
Wand. — Der breite Mittelstreif des Gewandes
war mit einem Mäander bemalt, von dem nur
noch die Vorzeichnung kenntlich ist. Ein in an¬
derem Schema geführter schmälerer Mäander auf
dem hintern Rande des Mantels unten, ebenfalls
jetzt farblos. Auf dem vorderen Zickzackrande
des Mantels sind mit violetter Farbe Rechtecke
in bestimmter Entfernung von einander aufge¬
malt, die wahrscheinlich durch ein fortlaufendes
Ornamentband miteinander verbunden waren;
doch ist dessen Form nicht mehr kenntlich,
und auch die Rechtecke selbst sind nur noch
auf der linken Seite der Figur einigermaassen
deutlich. Die Haare sind intensiv rot bemalt,
die Ohrläppchen für Ohrringe durchbohrt. Sehr
deutlich sind die aufgemalten Augensterne. Auf
dem Diadem ist — soweit man von unten er¬
kennen kann — keine Bemalung mehr vor¬
handen 2).«

Die Figur ist mit Chiton und Himation be¬
kleidet. Das Himation ist wie ein Shawl über
beide Schultern gelegt. Der Chiton, der aus
einem einzigen Stoffstücke besteht, ist in seinem
oberen Teile durch Wellenlinien als gerippter
Stoff charakterisiert; er verbirgt überfallend die
Gürtung.    Sein  unterer  Teil   macht  den  Ein-
 

1)   Lepsius, Marmorstudien, p. 73, no 53.

2)  Nach frdl. Mitteilungen von Paul Herrmann.
 

druck, als sei er aus anderem, dichterem Stoffe
gefertigt. Er wird nicht, wie so häufig, von
einer Hand gefasst und aufgezogen, sondern
fällt schwer herab. In der Mitte vorn sind
die Falten in einen breiten Streifen zusammen¬
genommen. Man muss sich vorstellen, dass
dieser leicht nach oben gezogen war und von
der Gürtelschnur festgehalten wurde, damit die
Füsse frei wurden. Eine besser erhaltene Figur,
wie das „Mädchen mit den roten Schuhen" 3),
mag vergegenwärtigen, wie ungefähr der einstige
untere Abschluss unserer Statue zu denken ist.
Die Hände werden Attribute, einen Kranz, eine
Frucht, einen Vogel, gehalten haben.

Die Statue offenbart sich durch ihr Material
als Schöpfung eines attischen oder wenigstens
in Attika arbeitenden Bildhauers. Und in der
That steht sie ihrem Stile nach jenen ältesten
Werken der attischen Plastik nahe, die noch
keine Beeinflussung Seitens der auf den öst¬
lichen Inseln arbeitenden, in der Technik weiter
vorgeschrittenen Künstler zeigen. Von dem
Raffinement der Marmorarbeit, das wir an jenen
Werken bewundern, der Überfülle von Detail
und der Freude an decorativen Effecten ist
hier nichts zu bemerken. Wie in der Gesammt¬
anlage der Figur, der steifen, unbelebten Hal¬
tung der Füsse und Arme, der monotonen
Linienführung an Chiton und Himation, grosse
Einfachheit und Zurückhaltung, man möchte
fast sagen, die Unterordnung individueller
Formengebung unter einen tektonischen Ge¬
danken sich kundgiebt, so sind auch die
schmückenden Einzelteile der Figur, Haupthaar,
Schulterlocken, Falten der Gewandung, bei
deren Wiedergabe sich die von ionischer Kunst¬
weise beeinflussten Werke in intimster Detailaus¬
arbeitung nicht genug thun können, hier durchaus
maassvoll und im richtigen Verhältnis zur
Gesammterscheinung behandelt. Bei all dieser
Einfachheit und Herbigkeit übt die Statue doch
einen grossen Reiz auf den Beschauer aus, offen¬
bar durch ihren einheitlichen, geschlossenen Stil¬
charakter. Es ist nichts Fremdes, Angenommnes
in ihr — ein Zwiespalt, der die reine Freude
an einer Reihe der sog. chiotischen Frauen¬
figuren von der Akropolis trübt —; sie ist das
 

Collignon I, p. 354, fig. 179; Lechat p. 157, fig. 11.
 

Denkmäler griech. u. röm. Sculptur
Taf. 556.
 

Verlagsanstalt F. Bruckmann A -G.
München 1903.
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