Brunn, Enrico, Denkmäler griechischer und römischer Sculptur

(München :  F. Bruckmann,  1888-1947.)

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557-
 

557.  Jünglingskopf.

England, Privatbesitz.
 

Furtwängler, Beschreibung der Glyptothek,
p. 313. Herkunft: Griechenland. Hoch ca.0,21 m.
Marmor sehr feinkörnig, wahrscheinlich pen¬
telisch. Die linke Kopfseite ziemlich stark corro-
diert. An Lippen und Ohren stehen gebliebene
Raspelstriche. Am Mund deutlich erkennbare
Bohrerarbeit.

Der fragmentierte Kopf, dessen ursprüng¬
liche Neigung nach der linken Seite sich noch
aus dem erhaltenen Halsansatz erkennen lässt,
ist eine Wiederholung des Münchener Ölein¬
giessers 9, niit dem er in den Maassen genau
übereinstimmt. Er beansprucht aber für sich
ein besonderes kunstgeschichtliches Interesse,
weil er nicht wie jener eine genaue Kopie
nach einem Bronzeoriginal ist, sondern dieses
in freierer Behandlung wiedergiebt, die man
als eine Übersetzung in den Marmorstil be¬
zeichnen darf.

An die Stelle der knappen, schmalen Formen
des Münchener Kopfes ist eine grössere Fülle
getreten. Der Mund ist voller, die Wangen sind
fleischiger, die Brauenbogen nicht so scharf ge¬
zeichnet, die Augen liegen tiefer, der Knochen¬
bau der Stirn tritt weniger hervor. Die Haar¬
behandlung ist, wenn auch die Anordnung der ein¬
zelnen Locken dem Originale recht nahe kommt,
wie der Vergleich mit dem Münchener Kopfe zeigt,
pastos, auf den malerischen Effect berechnet.

Durch diese Abweichungen im Einzelnen
wird eine Veränderung des ganzen Stilcharakters
hervorgerufen,  indem   die   vornehme   Eleganz,
 

^) Brunn-Bruckmann, Tafel 135.
 

die der Münchener Statue einen so grossen Reiz
verleiht, durch eine derbere Frische ersetzt wird.
Einige Übertreibungen hat sich der Künstler zu
Schulden kommen lassen in der schiefen Stel¬
lung der Augen zu einander und der Ungleich¬
heit der Gesichtshälften, die in geringerem Maasse
durch die Drehung des Kopfes bedingt wird.

Die Unterschiede der beiden, auf das gleiche
Original zurückgehenden Köpfe scheinen mir
zu gross, als dass sie als Kopistenvarianten
derselben Periode sich erklären Hessen. Die
etwas trockene Arbeit der Münchener Statue weist
ungefähr auf die Augusteische Zeit hin; die trotz
der starken Anlehnung an das Original in dem
zweiten Kopfe enthaltene selbständige Auf¬
fassung auf eine frühere, vorrömische Ausfüh¬
rung, Für eine genauere Datierung scheint
mir die überaus nahe Übereinstimmung in
der Arbeit mit dem Kopfe des Jünglings von
Eretria^) entscheidend zu sein. Wie dieser für
ein Werk des zweiten Jahrhunderts nach einem
Vorbild aus dem vierten erklärt worden ist 3),
so möchte ich die Ausführung des vorliegenden
Kopfes ebenfalls in jene Zeit setzen und in ihm
die freie Wiedergabe eines attischen Bronzeori¬
ginales des fünften Jahrhunderts erkennen, das
uns genau in einer treuen römischen Kopie er¬
halten ist. Der Vergleich der beiden Köpfe ist für
die Kopienfrage von besonderem Interesse 4).

J. Sieveking.
 

2)   Brunn-Bruckmann, Tafel 519.

3)   Text zu Brunn-Bruckmann a. a. O.

4)    Vgl.   Furtwängler,    Statuenkopieen,   I,   p.
Arndt, Text zu Brunn-Bruckmann, Taf. 550.
 

543.
 

Denkmäler griech. u. röm. Sculptur
Taf. 557.
 

Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G.
München 1903.
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