Brunn, Enrico, Denkmäler griechischer und römischer Sculptur

(München :  F. Bruckmann,  1888-1947.)

Tools


 

Jump to page:

Table of Contents

  Page [33]  



562.
 

562. Statue der Artemis.

München, Glyptothek.
 

Furtwängler 214; dort die Litteratur. Brunn ^
93. Friederichs-Wolters 450. Pentelischer Mar¬
mor. Höhe (mit Plinthe): 1,65 m. 1792 in
Gabii gefunden und aus Sammlung Braschi in
Rom erworben.

„Die Statue ist vortrefflich erhalten; der Kopf
ist ungebrochen; in den Tiefen des Gewandes
sind deutliche Reste von einstiger Bemalung
mit roter Farbe erhalten. Nur die Flächen der
Vorderseite und das Gesicht sind leider stark
abgeputzt worden. An den Rändern des Ge¬
wandes ist Einiges ergänzt, doch ist es im Ganzen
vortrefflich erhalten. Der 1. Unterarm ist mit
dem entsprechenden Gewandteil und mit einem
Stück des Oberarms sehr geschickt modern er¬
gänzt. Der r. Unterarm ist ungebrochen antik,
und die r. Hand ist zwar gebrochen, aber alt,
und hält die antiken Enden zweier Rehvorder¬
beine; nur der 3., 4. und 5. Finger sind ergänzt.
An dem Reh ist aber sonst nur die hintere
Bauchhälfte mit dem Ansatz des Oberschenkels
antik; doch scheint dies Stück von anderem
Marmor als die Statue und gehört wohl gar nicht
dazu. Die vordere Hälfte des 1. Fusses und
der ganze Rand der Plinthe sind ergänzt. An dem
antiken, vorn gebrochenen Teil der Plinthe ist
ein Stück felsiger Erhöhung antik; an dieses ist
ein modernes Stück angefügt, auf welches die
Hinterbeine des Rehes aufgesetzt sind. Am r.
Knie der Göttin ist eine moderne eiserne Stütze
für das Reh; ob hiei:* eine antike Spur war, ist
nicht zu erkennen. Das Ende des Köchers ist
angesetzt, scheint aber antik. An den Tieren auf
der Krone, die das Haupt der Göttin schmückt,
sind alle Köpfe modern bis auf einen, der aber
ganz undeutlich ist. Die zwei Gruppen über
der Stirn sind ganz modern. Am Gesicht ist
nur die Nase ergänzt." 0

„Die Göttin trägt einen Chiton mit Ober¬
ärmeln, der aber (wie der ärmellose dorische
Peplos) an der einen [linken] Seite offen, ge¬
gürtet und mit Überfall versehen ist; auch ist
ein kleiner Bausch über dem Gürtel angebracht.
Vom Hinterkopfe herab fällt auf die Schulter
und von da über den Rücken hinunter ein Mantel,
der   den  Hintergrund  bildet.    Quer  über   die
 

I) lieber  die   Ergänzungen   des   Kopfes  vgl.  auch
Bulle, in Arndt-Amelungs Einzelaufnahmen, zu Nr. 838/839.
 

Brust läuft das Koeherband, mit abgeriebner
Verzierung, laufenden Tieren, wie es scheint,
in flachem Relief. Die zwei Enden des Köcher¬
bandes auf der r. Schulter sind mit Fransen
geziert. Der Kopf ist mit einer hohen, durch¬
brochen gearbeiteten Krone geschmückt. Es
sind Gruppen von je zwei gegenüberstehenden
Tieren, wohl Rehen, zu den Seiten je eines un¬
deutlichen Gegenstandes (der eher ein altertüm¬
liches Idol,2) als einen Candelaber darstellt). —
In der linken Hand ist ohne Zweifel der Bogen
(nicht wie Brunn vorschlug, die Fackel) als
Attribut zu denken. Die Figur ist vor einer
Wand stehend gedacht; die Rückseite ist flach
und breit" (Furtwängler).

In den Formen der Statue stehen Elemente
der altertümlichen und der freien Kunst in
eigenartiger Weise nebeneinander. Der ge¬
bundene, steif zaghafte Stand der Beine; das
enge Anliegen des Gewandes an den Schenkeln,
die fast unbekleidet heraustreten, und die gezierte
Art, wie es zur Gürtung hinaufgezogen ist; das
feierliche, alten Cultbildern entlehnte Fassen der
Attribute — des Rehes, als sei es ebenfalls ein
lebloser Gegenstand — 3); dann die Haartracht mit
den steifen Schujterlocken und den vor den
Ohren herabhängenden und wieder aufgenomme¬
nen Wellen, und auf dem Haupt die grosse
Krone: das und Anderes sind archaische Züge,
die zu dem malerischen Stile der lebhaft flattern¬
den Falten, zu der Stellung der Füsse, die auf
gesenkter Plinthe abwärts zu schweben scheinen,
zu der seitlichen Wendung des Kopfes, den
freien und weichen Gesichtsformen 4) in ent¬
schiedenem Gegensatze stehen. Brunn glaubte
wegen dieser Stilmischung die Erfindung der
Statue nicht vor die letzte Entwicklung der
griechischen Kunst setzen zu dürfen. Aber wir
haben seit Brunns Zeiten erkennen gelernt, dass
das Archaisieren bereits in einer weit früheren
Epoche, in den letzten Jahrzehnten des fünften
Jahrhunderts, begonnen hat,5) und in eben diesen
 

2)  „mit über der Brust gekreuzten Armen":  Bulle
a. a. O.

3)  Vgl.  das  korinthische   Puteal,   die   Sosibiosvase
und das Medaillon: Fröhner, medaillons romains p. 31 ff.

4)  Vgl. die Abbildungen des Kopfes auf den folgen¬
den Seiten, nach Arndt-Amelung, Einzelaufnahmen 838/839.

5)  Vergl. Furtwängler, Statuenkopieen I.
 

Denkmäler griech. u. röm. Sculptur
Taf. 562.
 

Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G.
München 1903.
  Page [33]