Brunn, Enrico, Denkmäler griechischer und römischer Sculptur

(München :  F. Bruckmann,  1888-1947.)

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568.
 

568.   Kopf des Herakles.

London, British Museum.
 

A. H. Smith, catalogue of sculpture III,
n« 1734 (unter der Presse; Einsicht in die Druck¬
bogen verdanke ich A. S. Murray). Specimens
of ancient sculpture I, Taff. 9 und 10. Ancient
marbles of the British Museum I, Taf. 12. Furt¬
wängler, Meisterwerke, p. 354 ff., mit Abb. 47.
Derselbe in Roschers mythol. Lexikon s.v. Hera¬
kles, Sp. 2163. Vaux, Handbook (1851), p. 190,
T. 75 (mit Abb.).   Cook, Handbook (1903), p. 56.

1769 im Pantanello der Hadriansvilla zu
Tivoli gefunden, bei Ausgrabungen Gavin Ha¬
miltons^).    Später in Sammlung Townley.

Colossaler Maassstab: 0,52m hoch, soweit
antik. Pentelischer (?) Marmor. Vorzüglich er¬
halten; nur das Bruststück, das rechte obere
Augenlid, das Unterteil der Nase und die Ohren¬
ränder sind ergänzt. Oberfläche durch Wetter
angegriffen; nicht geputzt. Der Hinterkopf ist
weniger sorgfältig ausgearbeitet. Die Brauen
sind plastisch angegeben. Der Kopf wendet
und neigt sich zur linken Schulter. Im Nacken
links Stützenrest, wohl für die geschulterte
Keule.

Furtwängler hat früher in diesem Kopfe das
Product einer späten, stilmischenden Kunst¬
richtung gesehen, die altertümliche Züge mit
jüngeren Elementen vermengt habe, hat in¬
dessen diese Ansicht in seinen „Meisterwerken"
zurückgenommen und in dem Kopfe die Kopie
eines myronischen Werkes vermutet. Da seine
frühere Datierung noch heute namhafte Ver¬
teidiger findet, verlohnt es sich, die Einwände
zu prüfen, die gegen die Entstehung des Kopfes
in myronischer Zeit vorgebracht werden. Die¬
selben richten sich vor Allem gegen die zu leb¬
hafte Modellierung der Stirn, die im 5. Jahr¬
hundert unerhört sei, dann gegen die Kürze des
Untergesichtes, die in keinem Verhältnis zu der
Ausdehnung der oberen Partien stehe, und gegen
die Breite des Halses, auf den ein beträchtlich
grösserer Kopf gehöre — ein derartiges Ver¬
hältnis von Kopf zu Hals wie hier sei lysippisch,
nicht myronisch. Keiner dieser Gründe scheint
mir stichhaltig. Denn die kurzen Proportionen
von Hals zu Kopf sind absichtlich gewählt, um
durch sie die körperliche Kraft und Mächtigkeit
des Gottes anzudeuten, wie wir ja auch oft im
 

Winnefeld, die Villa des Hadrian, p. 158.
 

Leben bei physisch brutalen, durch grosse Mus¬
kelstärke ausgezeichneten  Menschen einen auf¬
fallend kleinen  Kopf finden,   der   durch  einen
ganz  kurzen   Hals  mit   dem   kräftigen   Körper
verbunden ist.    Dass aber bereits der Mitte des
5. Jahrhunderts eine solche Charakteristik nicht
fremd war, lehrt u. A. die auf den beiden nächst¬
folgenden Tafeln abgebildete Heraklesstatuette,
die wohl Niemand im Verdachte des Stilgemisches
haben wird.    Oder,  auf anderem Gebiete,  der
Herakles auf dem Antaioskrater des Euphronios.
Der Einwurf aber, dass das Untergesicht für
die Stilistik  der Mitte  des 5. Jahrhunderts  zu
kurz,  die  Stirn zu  stark  bewegt   sei,   erledigt
sich durch einen Blick auf den  Kopf des La-
pithen G im Westgiebel zu Olympia ^), der das
nämliche kurze Untergesicht (das ebenfalls offen¬
bar zur Andeutung der rohen Kraftnatur dienen
solP) und eine ähnlich starke Mittelteilung der
Stirn zeigt.    Nur  tritt am Herakles die Unter¬
stirn in noch  stärkerer Schwellung hervor,  so
dass beiderseits vom Nasenansatz zwei kräftige
Protuberanzen entstehen.    Ist aber das Princip
einer derartigen Stirngliederung von demjenigen
der vorhin erwähnten Heraklesstatuette so we^
sentlich   verschieden  und in  der Mitte  des  5.
Jahrhunderts undenkbar? zumal wenn wir den
Charakter der vorliegenden Kopie in Betracht
ziehen, die offensichtlich nicht das Werk eines
auf ängstliche   Treue im   Einzelnen   bedachten
Arbeiters ist?   ist  etwa  die grosse  Asklepios-
statue der Uffizien,  die  die Hand der Hygieia
auf der linken Schulter hat^),  nicht  die Kopie
einer  Schöpfung des 5. Jahrhunderts, sondern
das selbständige Werk  eines  römischen, alter¬
tümliche   Einzelzüge   verwendenden   Künstlers,
weil  die Modellierung der Stirn über den Stil
der Haar- und Bartlocken und der Gewandung
hinausgeht?    Hier beweisen uns die getreueren
Repliken in London, Paris und Florenz doch ganz
klar,  dass   die  reichere  Bewegung  der  Stirn¬
formen  ausschliesslich  der Hand des Kopisten
zuzuschreiben ist.    Geradeso liegt der Fall bei
dem   Londoner  Herakleskopf,   oder   vielleicht
 

2) Treu, Olympia, III, Taf. XXIX, 2 und 3.

^) und das übrigens der Diskobol ganz ebenso hat!

^) Furtwängler, Meisterwerke, p. 396, Fig. 59. Ame¬
lung, Führer, n° 95. Der Kopf: Arndt-Amelung, Einzel¬
aufnahmen 92/93.
 

Denkmäler griech. u. röm. Sculptur
Tafel 568.
 

Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G.
München 1904.
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