Brunn, Enrico, Denkmäler griechischer und römischer Sculptur

(München :  F. Bruckmann,  1888-1947.)

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569 und 570.
 

569 und 570. Statuette des Herakles.

England, Privatbesitz.
 

Hoch 0,57 m. Sehr feinkörniger, wohl pen¬
telischer Marmor. In Rom, angeblich zwischen
Aventin und Tiber, gefunden. Ohne Ergän¬
zungen. Abgebrochen sind der linke vordere
Teil der Plinthe, der Penis und die linke Hand;
diese war mittels eines Bronzestiftes, für den
das Einsatzloch vorhanden ist, besonders an¬
gesetzt. Übrigens ist die Statuette selten vor¬
züglich erhalten. Nur ist sie, namentlich im
Rücken, mit hässlichem braunen Sinter bedeckt,
der die Wirkung des Originales beeinträchtigt.
Zum besseren Studium der einzelnen Formen
geben wir deshalb ausser den Abbildungen des
Originales^) auch solche des Gipses^) (nach
dem mir gehörigen Abgüsse, den ich der Güte
des Besitzers der Statuette verdanke).

Erwähnt von Furtwängler, Meisterwerke p. 591,
Anm. 4; antike Gemmen II, zu Tafel XLIII, 35.
Im Sommer 1903 auf der „Exhibition of ancient
greek art'' im Burlington Fine Arts Club in
London ausgestellt (Katalog von Mrs. Strong-
Sellers, p. 13, n° 12). Conze im Arch. Anzeiger
des Jahrbuchs, 1903, p. 144 („kaum älter als
hellenistische Zeit die Heraklesstatuette, welche
sichtlich ein gutaltes, in allen Silhouetten treff¬
lich dastehendes Werk im Gesamtmotiv und
in den Hauptformen wiedergiebt").

Die Figur tritt mit vollen Sohlen auf. Das
rechte ist das Spielbein; es ist im Knie leicht
gekrümmt. Der Kopf ist nach der Seite des
Standbeins hin geneigt. Der Blick folgt, ohne
besonderes Ziel, dieser Richtung des Kopfes.
Der herabgehende rechte Arm fasst an ihrem
oberen Ende die gesenkte Keule, die auf einer
kleinen felsigen Erhöhung aufruht. Über den
vorgestreckten linken Unterarm fällt die Löwen¬
haut. Die Hand wird, nach Analogie der noch
zu erwähnenden Gemme: Furtwängler XLIII,
35, den Bogen gehalten haben; des grösseren
Gewichtes halber, das sie zu tragen hatte, war
sie besonders gearbeitet und angesetzt. Hinter
dem Löwenfell kommt der Stamm zum Vor¬
schein, an dessen linker Seite die schwerver¬
ständlichen, zur Hälfte weggebrochenen  Reste
 

^) die der Londoner Photograph Herr Frederik Hollyer,
9, Pembroke Square, Kensington, hergestellt hat.

^) Man beachte, namentlich bei den Aufnahmen der
Vorderseite, wie auf den Photographieen des Gipses die
Körperformen voller und plumper erscheinen!
 

eines grossen, gerundeten, ziemlich stark über
der Plinthe sich erhebenden, auf der Oberseite
durch Wellenlinien belebten Gegenstandes sich
befinden, in welchem Fr. Hauser, offenbar rich¬
tig, eine Quelle erkannt hat ^). Herakles wurde
bei den Griechen und namentlich bei den Römern
als Schützer warmer, heilender Quellen ver¬
ehrt^); zu Zwecken eines derartigen Cultus
wird, wenn auch nicht das ursprüngliche Ori¬
ginal, so doch die hier vorliegende Kopie ge¬
dient haben. Nicht das Original: denn es ist
wahrscheinlich, dass Stamm wie Quelle erst
dem Kopisten ihre Zufügung verdanken. Die
Quelle, da sie sich bei den andern, noch zu
besprechenden Wiederholungen der Statue nicht
findet; der Stamm, da es schwer gewesen wäre,
ohne eine solche Stütze das Löwenfell frei in
Marmor auszuarbeiten, das Original der Figur
aber, man darf wohl sagen, zweifellos, in Bronze
gearbeitet war. Darauf weisen die knappen,
scharfen Formen des Nackten, das wie aus Bronze¬
blech getriebene Löwenfell ganz unverkennbar hin.
Die Arbeit der Statuette ist von seltener Fein¬
heit, Sorgfalt und Vollendung, und bis ins
Aeusserste scharf und genau, ohne an irgend
einer Stelle in Kleinlichkeit oder Manieriert¬
heit zu verfallen. Die Art, wie Hände und
Füsse und Kniee ausgearbeitet sind, wie die
Fläche des Rückens durch reiche Modulation
belebt ist, ist bei der Kleinheit der Figur ganz
bewundernswert. Nach der gedrehten Stütze
zu urteilen, die den Stamm mit dem rechten
Oberschenkel verbindet, gehörte der Kopist,
der sein Vorbild offenbar sehr getreu wieder¬
gegeben hat, hadrianisch-antoninischer Zeit an^).
Die Form der profilierten Plinthe^) und die minu¬
tiös-saubere Art der Arbeit, sowie die starke
Verwendung des Bohrers fügen sich zu dieser
Datierung.

Der Kopftypus der Statuette weist in das
zweite Viertel des fünften Jahrhunderts, in die
der höchsten Blüte kurz vorhergehende Zeit.
Noch ein Rest archaischer Strenge liegt in den
 

^) Vgl. Vatican, Chiaramonti 353 (Amelung Taf. 56).

*) Röscher, mytholog. Lexikon, s. v. Herakles,
Sp. 2160 und 2237; Hercules, 2956.

^) Vgl. Furtwängler, Meisterwerke,  p. 535, Anm. 2.

^) Vgl. z. B. den einschenkenden Satyr Ludovisi:
Brunn-Bruckmann 376.
 

Denkmäler griech. u. röm. Sculptur
Tafel 569 und 570.
 

Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G.
München 1904.
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