572 und 573.
 

572 und 573. Bärtiger Götterkopf.

Boston, Museum of fine arts.
 

Eine vornehme, aber milde Schönheit strahlt
aus diesem Kopfe. Es ist nicht die straffe und
unnahbare Hoheit der phidiaslschen Epoche,
nicht das ruhelose stürmische Wollen der Ale¬
xanderzeit, es ist ein freundliches, edel mensch¬
liches Wesen, das in schlichten, ruhigen und
milden Formen hier sich ausspricht. Es ist ein
Werk des vierten Jahrhunderts vor der Ale¬
xanderepoche, ein Werk der Zeit des Praxiteles
und Skopas.

Der Kopf ist zweifellos das, was man ein
griechisches Original zu nennen pflegt. Er ist
nach der Aussage des früheren Besitzers nicht
weit von Halikarnass gefunden worden'). Und
er findet  wirklich seine  nächsten  stilistischen

') So nach Mitteilung von P. Arndt, dem ich auch
folgende Angaben verdanke: Der Marmor ist feinkörnig,
anscheinend leicht bläulich. Die rechte Kopfseite ist
etwas versintert. Auf dem Oberkopfe ein rundes, 5 cm
tiefes, 1—11/2 cm breites Loch; etwas weiter hinten eine
oblonge, 3 cm tiefe, 2 cm breite, 6 cm lange Eintiefung
für einen Dübel. Der Kopf ist zum Einsetzen in eine
Statue gearbeitet Höhe 0,48 m.
 

Parallelen an den Sculpturen, die uns vom
einstigen Schmucke des Maussoleums von Hali¬
karnass geblieben sind. Besonders verwandt in
der ganzen Arbeit und Auffassung ist ein bär¬
tiger Kopf vom Maussoleum (Brit. Mus. catal. II,
1054; pl. 20, 1); aber auch der sog. Maussolos
selbst ist stilistisch wesentlich verwandt, wenn
auch viel energischer und reicher in den Einzel¬
formen.

Man darf hienach mit gutem Grunde an¬
nehmen, dass der Kopf demselben Künstler¬
kreise entstammt, dem die Aufgabe, das Mausso¬
leum mit Sculpturen zu schmücken, zugefallen
war; wenn der Kopf nicht gar selbst zu eben
diesen Werken gehört hat.

Die Gesichtslänge des Kopfes beträgt circa
26 cm, die Distanz vom Haaransatz zum Munde
18'/2 cm, vom inneren Augenwinkel zum Munde
9 cm. Die Höhe der Figur, stehend gedacht,
musste gut 21/2 m betragen haben. Der Kopf
macht jedoch nicht den Eindruck, dass er einer
stehend gebildeten Statue angehört habe; er wird,
 

Denkmäler griech. u. röm. Sculptur
Taf. 572 und 573.
 

Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G.
München 1904.