Brunn, Enrico, Denkmäler griechischer und römischer Sculptur

(München :  F. Bruckmann,  1888-1947.)

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577-
 

577. Statue einer Göttin.

Boston, Museum of fine arts.
 

Diese 0,675 m hohe Gruppe^) wurde von
dem verstorbenen Sammler L6on de Somzee zu
Brüssel aus dem Kunsthandel in Rom erworben;
sie sollte gefunden sein bei der Porta San Pan-
crazio. Das Material ist pentelischer Marmor.
Die Gruppe ist fast ganz vollständig erhalten;
ergänzt ist Nichts. Es fehltnur die rechte Hand
mit dem Gewandrande und der Kopf des Wasser¬
vogels, der besonders angesetzt war. Auch der
vordere Teil des linken Fusses war angestückt;
es ist noch der Rest des eisernen Stiftes erhalten,
der ihn trug. Ferner ist das Ende des linken
Flügels des Vogels und der grösste Teil des
rechten Flügels abgebrochen. Die Nase der
Göttin und die Finger der linken Hand sind
beschädigt.

Die Gruppe hat als Aufsatz auf einen Brunnen
gedient; sie ist von unten her durchhöhlt (s. die
Unteransicht Figur 1), um eine Wasserröhre
hineinzulegen, die durch den Hals des Vogels
ging. Man sieht oben die Mündung der cylin-
drischen Durchbohrung; sie ist indes jetzt durch
einen Stein und Kal^ oder Gips verstopft, und
zwar ist dies nicht in moderner Zeit geschehen,
sondern noch bevor die Figur unter die Erde
kam. Auf dem schmalen Rande, welchen die
Durchbohrung an dem oberen Halsabschnitte
lässt, sieht man ein kleines rundes Dübelloch,
mittels dessen der Kopf des Vogels aufgesetzt
war. Dieser Kopf kann aber nicht in Marmor,
er muss in Bronze gearbeitet gewesen sein.

Diese ganze Herrichtung der Gruppe zu einer
Brunnenfigur ist aber offenbar nicht ihrer Ent¬
stehung gleichzeitig. Sie ist recht grob und roh
gemacht. Man hat augenscheinlich behufs Zu¬
richtung zur Fontäne den ursprünglich mit dem
Ganzen aus einem Block gearbeiteten Kopf des
Wasservogels abgeschnitten und durch einen
ehernen ersetzt, der als Brunnenmündung brauch¬
bar war; denn den marmornen Vogelkopf zu durch¬
bohren, wäre sehr umständlich und schwierig
gewesen.

Stil und Arbeit der Gruppe beweisen in der
unverkennbarsten Weise, dass dieselbe ein grie¬
chisches und zwar attisches Werk aus dem
vierten Jahrhundert vor Chr. ist.    Es ist
 

') Gesichtslänge 78 mm; vom Kinn  zum inneren
Augenwinkel SO mm. — Reinacb, röpertoire II, 2, p. 687, n° 1.
 

das feierliche Bild einer grossen Göttin auf einem
Vogel, ein griechisches Originalwerk voll reli¬
giösen Sinnes, ein Weihgeschenk aus einem
Heiligtume. Zur Decoration einer Garten¬
fontäne wurde dieses Denkmal zweifellos erst
 

Fig. 1.

in römischer Zeit von einem späteren Besitzer
in Rom gemacht, der den schönen griechischen
Marmor, den er auf irgend eine Weise erworben,
im Garten seines Peristyls hübsch aufstellen
wollte. Dieser Vorgang ist bekanntlich nicht
ohne Analogien.

In allen Tiefen sind auf dem Marmor Reste
einer ockergelben Farbe erhalten. Auch diese
Färbung wird schwerlich der Zeit der Ent¬
stehung, sondern gewiss der späteren Verwen¬
dung zuzuschreiben sein.

Die Gruppe ist nur für die Vorderansicht
gearbeitet; an den beiden Seiten und hinten ist
sie nur flüchtig angelegt.

Die Göttin, bekleidet mit gegürtetem Chiton
mit Kreuzbändern und mit dem über den Hinter¬
kopf gezogenen Mantel, sitzt bequem auf dem
Rücken des Tieres, und zwar zwischen den zwei
sich hebenden Flügeln desselben.   Der rechte
 

Denkmäler griech. u. röm. Sculptur
Tafel 577.
 

Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G.
München 1904.
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