Brunn, Enrico, Denkmäler griechischer und römischer Sculptur

(München :  F. Bruckmann,  1888-1947.)

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58i.
 

581. Weiblicher Kopf.

Sammlung T. Humphrey Ward, London.
 

Journal of hellenic studies XIV (1894), pl. V,
p. 198 ff. (E. Seilers). ~ Burlington Fine Arts
Club, Exhibition of ancient greek art, London
1904, pl. III und IV; p. 8, n° 2.— Furtwängler,
Statuencopieen I, p. 3, Anm. 2. — Gazette des
beaux-arts 1894, p. 149 f. (S. Reinach). — Mahler,
Polyklet, p. 97. — W. Klein, griechische Kunst¬
geschichte I, 394. — Ich selbst habe das Origi¬
nal noch nicht gesehen.

Aus Palazzo Borghese in Rom. Gesichts¬
länge 0,172 m. In Gips ergänzt sind die Nase,
ein kleines Stück des Kinnes und der grösste
Teil des Halses (bis auf geringe Reste an beiden
Seiten). In der Haarbinde hinter dem linken
Ohre nach Ausweis des Lichtdruckes ein Loch,
das wohl zur Befestigung von metallenem Zier¬
rate diente.

Die Oberfläche des Kopfes,-als dessen Ma¬
terial „Inselmarmor" genannt wird, ist gut er¬
halten. Der Kopf wird von Denjenigen, die den
Marmor selbst untersucht haben, als griechische
Originalarbeit bezeichnet. Er ist ein Werk aus
der Übergangszeit vom archaischen zum strengen
Stile, aus dem vierten oder fünften Jahrzehnt
des fünften Jahrhunderts. Wie die erste Heraus¬
geberin richtig bemerkt hat, erinnert er, in der
Gesammtanlage wie in Einzelheiten, ganz auffällig
an den Kopf der „Aphrodite" auf dem soge¬
nannten Ludovisischen Throne, der jetzt im
Thermenmuseum aufgestellt ist'). Bei beiden
breitet sich das Haar strahlenförmig vom Wirbel
aus bis zu der breiten, um den Kopf gelegten
Binde ^). Unterhalb derselben findet es am Lu¬
dovisischen Kopfe keine directe Fortsetzung, son¬
dern verschwindet unter den Strähnen, die von
der Stirn seitwärts gestrichen sind, und vereinigt
sich mit ihnen. Am Rundkopfe hingegen verbin¬
den sich die seitlichen Wellen des Stirnhaares mit
den durch die Binde durchgezogenen Strähnen
des Haares am Hinterhaupte zu einem Schöpfe,
der auf den Nacken fiel und wohl unten ge¬
knotet war. Aus dieser reichen Haarfülle taucht
bei beiden Köpfen an ganz unrichtiger Stelle
die Ohrmuschel auf.   Am Rundkopfe stehen die
 

■) Hier Figur 1.    Heibig, Führer* II, 938 a.
■-) Am Londoner Kopfe ist dieselbe hinten geknotet:
s. die Abb. im Journ. of hell, stud., p. 199, Fig. 2.
 

Fig.l

Ohren in verschiedener Höhe — das linke nied¬
riger, aber auch dieses der Natur gegenüber
immer noch viel zu hoch. Diese seltsame Ge¬
staltung des Profils ist so auffällig und unge¬
wöhnlich, dass man in der That versucht ist,
mit E. Seilers beide Werke dem nämlichen
Meister zuzuschreiben. Dieser war wahrschein¬
lich ein Attiker: ein Werk wie die Frauen¬
statue des Euthydikos =') darf als nächste Vor¬
gängerin, Köpfe wie die von Furtwängler') dem
jungen Phidias zugeschriebenen, in Petersburg
und bei Baron Barracco, oder wie der in der
Madrider Doppelherme mit dem sog. Sappho-
typus vereinigte Eroskopf'), dann auch die
Neapler Bronzeherme einer Amazone"), als
unmittelbare Nachfolger dieses Kopftypus be¬
zeichnet werden.

Die Deutung des Kopfes hängt von der Be¬
nennung des stilverwandten Kopfes auf dem
Ludovisischen Throne ab. Wie dort, so kann
auch hier zunächst die Deutung zwischen einer
Göttin und einer Sterblichen schwanken.
 

^) Brunn-Bruckmann, 459.

*) Meisterwerke, p. 88 fF.

■•) Ebenda, p. 101; Arndt-Amelung, Einzelaufnahmen,
1646—48.

°) Furtwängler, Meisterwerke, p. 300; Brunn-Bruck¬
mann, 337.
 

Denkmäler griech. u. röm. Sculptur
Tafel 581.
 

Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G.
München 1905.
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