Brunn, Enrico, Denkmäler griechischer und römischer Sculptur

(München :  F. Bruckmann,  1888-1947.)

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598.
 

598. Zwei Reliefplatten.

Zusammengesetzt aus Fragmenten in Rom^ Florenz und München.
 

Die beiden Reliefs, die wir nach dem Gips¬
abguß abbilden müssen, können erzählen von
den widrigen Schicksalen, denen auch Antiken^
welche Dank einer schützenden Erddecke den
rohen Händen mittelalterlicher Christen ent¬
gingen, selbst dann noch ausgesetzt waren, nach¬
dem die Renaissance Achtung vor den Resten
der alten Kunst, Liebe zu den verstümmelten
Marmorgöttern wieder geweckt hatte. In der Ge¬
stalt, wie unsere Tafel die Reliefs reproduciert,
sind die Originale in keinem Museum zu finden.
Die Bestandteile der ersten Platte gehören jetzt
teils dem Vatican, teils den Uffizien in Florenz;
diejenigen des andern Reliefs wurden gar in drei
Museen zersprengt: Stücke davon bewahren die
genannten zwei Sammlungen und ein Drittel der
Platte kam nach München in die Glyptothek.

Ein Verhängnis wollte, daß die Fragmente
nicht auf einen Sitz wieder aus dem Boden ge¬
zogen wurden; dadurch geriet der Fund von
vornherein in verschiedene Hände, und mit dem
Wechsel des Besitzers zerstreuten sich die Stücke
in immer weitere Ferne. Während ein Teil
der Fragmente bereits für den Anfang des sech¬
zehnten Jahrhunderts sich aus alten Inventaren,
Zeichnungen und Stichen nachweisen läßt,
wurde der Rest erst im Beginn des neunzehnten
Jahrhunderts ausgegraben. Weiteres Mißgeschick
verhängte, daß erst nur zwei Figuren der einen
Platte, und auch diese noch unvollständig, nebst
einer Figur der andern Platte zu Tage kamen. Da
alle Stücke gleichen Stil, gleiches Maaß und
gleichen Rahmen aufwiesen, war der Irrtum
begreiflich, daß man sie als Bestandteile einer
einzigen Platte ansah und demgemäß aneinander
fügte. So hat Lorenzetto, der Schüler RafFaels, der
nach 1520 für den Cardinal Valle das Arrangement
eines mit Antiken geschmückten Hofs besorgte,
die Bruchstücke zusammenschweißen lassen, und
in dieser Gestalt wird die Platte heutigen Tags
noch, unter Hinzufügung anderer und zwar ab¬
scheulicher, im achtzehnten Jahrhundert aus¬
geführter Ergänzungen, von so manchem Besucher
der Uffiziengallerie bewundert. Erst vor ein paar
Jahren gelang es mir, an den Gipsabgüssen der
verzettelten Fragmente den ursprünglichen Zu¬
sammenhang wieder nachzuweisen, und das
Mosaik dieser Abgüsse, an welchen nur der
ruhigeren Wirkung zu lieb die fehlenden Stücke
 

des Rahmens ergänzt, die Lücken des Relief¬
grunds ausgefüllt, alle alten Ergänzungen dagegen
entfernt wurden, giebt unsere Tafel wieder. Wer
Belege sucht und sich für Einzelheiten interessiert,
findet sie in meinem Aufsatz: Jahreshefte des
Österreichischen Archäologischen Instituts 1903.

Bringt man frisch aus dem Boden kommende,
an einander passende Fragmente in die richtige
gegenseitige Stellung, so scheinen sie wieder zu
einem Ganzen zusammen wachsen zu wollen.
So scharf und lückenlos greifen freilich unsere
Fragmente nicht mehr in einander. Denn an keiner
Stelle erhielten sich beiderseits die Bruchränder:
diese sind meist vom Ergänzer abgeschliffen, um
eine regelmäßigere Ansatzlinie für seine eigene
Arbeit zu schaffen; und, was noch schlimmer ist,
der Überführung auf die wie stets schlecht er¬
ratene Ergänzung zulieb, hat er an einigen
Punkten, wie namentlich am rechten Oberarm
des Mädchens mit der Kanne, auch die Relief¬
erhebung modificiert. An dem Mädchen mit den
Ähren ist überhaupt die ganze Oberfläche ab¬
geschliffen ; bis zu welchem Maaß, das sieht man
am besten daraus, daß jetzt die Sohle ihrer
Schuhe nicht mehr wie bei den andern scharf
absetzt. Im übrigen aber läßt sich die Erhaltung
als eine recht günstige bezeichnen, wie es auch
einen besondern Glücksfall bedeutet, wenn sich
von sechs Köpfen fünf, und dazu noch so wenig
entstellt, erhielten. Überdies darf es gar nicht als
ausgeschlossen betrachtet werden, daß der eine
abgebrochene Kopf in irgend einem Museums¬
magazin noch ungenutzt herumliegt. Das jetzt
fehlende Mittelstück der einen Gestalt war sicher
einst im sechzehnten Jahrhundert vorhanden;
denn auf einer alten Zeichnung dieser Zeit ent¬
spricht jene Figur gerade in der genannten
Partie so genau einer erst neuerdings auf dem
Forum Romanum zum Vorschein gekommenen
Wiederholung, wie es ein Ergänzer unmöglich
hätte erraten können. Es heißt also weiter
suchen.

Um die Mädchen von nun ab bei ihrem
Namen nennen zu können, fragen wir zunächst
nach der Deutung beider Reliefs. Ihre Erklärung
kann Dank den Attributen und wegen der Tat¬
sache, daß beide Male ein Dreiverein mythischer
Gestalten auftritt, mit voller Sicherheit gegeben
werden. Das Kännchen, aus dem sich ein so dichter
 

Denkmäler griech. u. röm. Sculptur
Taf. 598.
 

Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G.
München 1906.
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