Brunn, Enrico, Denkmäler griechischer und römischer Sculptur

(München :  F. Bruckmann,  1888-1947.)

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6oo.
 

600.   Zwei Reliefplatten aus dem Dionysostheater.

Athen, Nationalmuseum.
 

Kavvadias n° 259, 260. Sybel n« 311, 312.
Friederichs-Wolters n° 1878, 1879. Fundbericht
von Rhusopulos in der 'Ecpi^iaepic; 'ApxaioXoyixri
1862, S. 135. Hauser, Neuattische Reliefs,
S.43, 179. Reisch, Griechische Weihgeschenke,
S. 97. Rizzo im Bullettino Comunale 1901, S. 236.
Weitere Litteratur in den citierten Werken.
Neue Abbildung: Svoronos, Athener National¬
museum, Taf. 32 (zu welcher der Text noch nicht
erschienen).

Mit diesen beiden Reliefs beschäftigten wir
uns schon im Text zur vorigen Tafel und be¬
merkten, daß ihr Urheber sowohl von der
Lateranbasis als vom Vorbild der Aglauriden
Anleihen erhob. Daß für diese Tänzerinnen,
wenigstens was ihre Erfindungbetrifft, das Gleiche
gilt wie für die genannten anderen Werke, macht
schon der erste Blick klar. Ebenso ist durch
die Basis im Lateran die Deutung der beiden
Frauengestalten als Thyiaden gegeben. Es kann
nur noch die Frage sein, wann die Exemplare
selbst ausgeführt wurden und in welchem decora¬
tiven Zusammenhang die Platten ursprünglich
standen.

Auf die letztere Frage vermögen wir leider
keine definitive Antwort zu geben; e§ muß ge¬
nügen, verschiedene Möglichkeiten ihrer Ver¬
wendung zu erörtern. Beide Stücke wurden im
Jahre 1862 bei den Ausgrabungen des Dionysos¬
theaters in Athen gefunden, und zwar die Platte
rechts auf unserer Tafel nahe bei dem östlichen
Vorsprung des Bühnengebäudes in dem Gang
der Parodos. Für das Gegenstück liegt nur die
Angabe vor, daß auch sie im Dionysostheater
zum Vorschein kam. Eine fragmentierte dritte
Platte, welche Reisch als zugehörig betrachtet,
trotzdem er nicht die gleiche Provenienz nach¬
weisen kann, und die bei Svoronos auf derselben
Tafel abgebildet ist, müssen wir dagegen aus
diesem Zusammenhang ausschließen, nicht so¬
wohl wegen der von Reisch selbst genannten
Differenzen in den Maaßen der Concavität oder
weil sie unten mit einem Sockel versehen ist,
der an den anderen Reliefs nicht vorhanden,
sondern weil sie genau die gleiche Figur dar¬
stellt, welche auch die Platte links enthält. Da
der Vorrat an antiken Darstellungen von Tän¬
zerinnen, wie wir sahen, nicht zu karg bemessen
ist, könnte ich auch dem ungeschicktesten Bild¬
 

hauer nicht zutrauen, daß er unter drei Mänaden
zweimal das gleiche Modell wiederholt. Mit dem
Wegfall des dritten Stücks verliert aber der
Vorschlag von Reisch seine überzeugende Kraft,
nach welchem die Platten in die drei Seiten
einer Basis vom Grundriss derjenigen im Lateran,
nur von viel beträchtlicherer Höhe, eingelassen
gewesen sein sollen.

Bei Platten mit geschweifter Grundfläche,
die in einem Theater ausgegraben wurden, liegt
kein Gedanke näher, als daß sie irgendwo zur
Verzierung der Ringe des Zuschauerraums ver¬
wendet waren. Geht man aber weiter und fragt
nach der Stelle, wo im Koilon sie gesessen
haben könnten, so erweist sich die Durchführung
dieses Gedankens keineswegs als ganz glatt. Die
Platten, welche allseitig Anschlußflächen mit
Klammerspuren zeigen, messen an sich schon
1,12 m, wozu also mindestens noch ein krönendes
Glied zu rechnen wäre, was eine Gesamthöhe
von circa 1,25 m ergiebt. Mit dieser Höhe würden
sie an jeder Stelle des Koilon den zunächst hinter
ihnen sitzenden Zuschauern die Aussicht ver¬
decken. Denkbar bliebe nur die Aufstellung
am Rand der Orchestra, da dieselbe um 0,24 m
tiefer liegt als die erste Reihe der Ehrensitze;
hier würde die Höhe selbst den Blick auf die
Vorgänge in der Orchestra nicht versperren,
und tatsächlich ist ja auch hier ein Plattenkranz
von ungefähr der gleichen Höhe 1,08 m vorhanden.
Allein von dieser Einfassung ist genügend er¬
halten, um eine Einreihung der Reliefs in den¬
selben auszuschließen. Anstatt uns nun irgend
einen Vorschlag für die Verwendung der Platten
abzuringen, scheint es mir richtiger, einzugestehen,
daß wir etwas halbwegs Sicheres über diesen
Punkt nicht wissen. Wir können nur wünschen,
daß die Publication, welche sämtliche im Theater
gefundene Sculpturen mitteilen soll und welche
bei Dörpfeld-Reisch, Das Griechische Theater,
S. 88, schon vor zehn Jahren als demnächst er¬
scheinend angekündigt ist, uns hierüber belehren
wird.

Trotzdem sich aber unsere Reliefs vorläufig
an keiner Stelle des Theaters mit Sicherheit
einfügen lassen, so scheint mir doch soviel ge¬
wiß, daß sie aus derselben Periode des Theater¬
baues stammen, welcher die Reliefs am Pro¬
skenion (Brunn-Bruckmann 15) angehören. Nicht
 

Denkmäler griech. u. röm. Sculptur
Tafel 600.
 

Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G.
München 1906.
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