"Kreuzberg SO 36"

frei nach einer Stadterkundung geleitet von Goethe-Institut Berlin, 05/2004[1]
Links und Fotos von RAKorb, 2005.

Heute besuchen wir den süd-östlichen Teil Kreuzbergs, einen Stadtteil, der seit seiner Entstehung stark durch beständige Zuwanderung geprägt wurde.  Noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dominierten hier Gärtnereien und kleinere landwirtschaftliche Betriebe das Stadtbild.  Mit der zunehmenden Industrialisierung setzte eine geschlossene Bebauung mit Werkstätten, Fabriken sowie mit Wohnhäusern für die benötigten Arbeitskräfte ein.

Mit der unmittelbaren Nachbarschaft von Industrie, Handwerksbetrieben und Wohnungen entstand die so genannte "Kreuzberger Mischung":  Wohnen und Arbeiten, Vergnügung und Versorgung in unmittelbarer Nachbarschaft.  Nach der politischen Teilung Berlins 1948/49 und besonders nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 bildete dieser Teil Kreuzbergs den östlichen Zipfel West-Berlins; er war vom alten Stadtzentrum, dessen Nähe zuvor zur Bedeutung Kreuzbergs beigetragen hatte und das nun in Ost-Berlin lag, abgeschnitten.  Die Häuser verfielen, Industrie und Gewerbe wanderten ab.  Dadurch wurde der Wohnraum extrem billig, und so zog es neben Studenten, Künstlern und politisch Unzufriedenen aus Westdeutschland vor altem ausländische Arbeitsmigranten, besonders türkische Staatsbürger, nach Kreuzberg.  Etwa ein Drittel der Kreuzberger Bevölkerung ist heute ausländischer Herkunft.  Auch heute noch prägen Studenten und (Lebens-)Künstler die soziale und kulturelle Atmosphäre Kreuzbergs, wenn auch nicht mehr in dem Maße wie bis in die 1990er Jahre, als sich hier ein Zentrum deutscher Sub- und Gegenkulturen und alternativer Lebensformen befand.

In der Stadtlandschaft ist das Erbe der Mauer noch heute empfindlich spürbar, genauso wie die Hinterlassenschaften der groß angelegten Stadtmodernisierung der 1970er und 1980er Jahre.  Der breite Widerstand gegen den geplanten Abriss alter Häuser bewirkte eine verstärkte Identifikation der Bewohner mit ihrem "Kiez".  Und der Konflikt prägte als Architektur gewordener Kampf das Stadtbild:  Kreuzberg ist ein Bezirk, in dem der beständige Wandel als Prinzip der Berliner Geschichte bis heute deutlich zu sehen und zu spüren ist.  Den ehemaligen Postbezirk "1000 Berlin Südost 36" nannten und nennen die Berliner auch nach Einführung der neuen Postleitzahlen liebevoll "SO 36".

Wenn wir den U-Bahnhof Görlitzer Bahnhof verlassen, stehen wir unter der Bahnstrecke, zwischen den beiden Fahrbahnen der Skalitzer Straße.  Die Straße ist durch eine Mischung von bunten, seit kurzer Zeit sanierten und sanierbedürftigen Häusern.  Schon von dem Bahnhof aus sehen wir ein paar Häuser, die diesen Kontrast zwischen vorher und nachher aufweisen.

Skalitzer Straße 42 / 41 von der Hochbahn aus
Vergleich zwischen vorher und nachher

Als wir mit der U-Bahn hierher gekommen sind, sind wir zum Teil unter und zum Teil über der Erde.  Dieses Phänomen lässt sich durch die Geschichte der Finanzierung der U-Bahn-Linien erklären:  Die ersten U-Bahn-Linien (Linie 1 bis 4) wurden von den einzelnen Stadtbezirken bezahlt.  In den ärmeren Stadtbezirken Berlins, wie den Arbeiterbezirken Kreuzberg und Prenzlauer Berg, entschied der Magistrat des Bezirks, anstatt der teuren unterirdischen Strecken die U-Bahn als Hochbahn zu bauen. Das macht die SO 36 Nachbarschaft etwas laut und dreckig, aber die Kreuzberger sehen das Positive davon: Wenn es regnet, laufen sie unter dem "Magistrats-Regenschirm".

Viele Einwohner in SO 36 leben in den Schatten der Hochbahn.

Wir beginnen unsere Tour von SO 36 in der Oranienstraße, die in den 1920er Jahren "der Ku'Damm des Ostens" genannt wurde, weil es hier so viele Geschäfte, Cafés, Restaurants und Unterhaltungsbetriebe gab wie am berühmten Kurfürstendamm, nur alles etwas kleiner und weniger international.  Heute ist de Oranienstraße noch genauso bunt, aber viel internationaler geworden.

Internationale Atmosphäre herrscht heute in der Oranienstraße

Beim Weitergehen fällt es auf, dass die Häuser auf der linken Straßenseite sich im Laufe der Geschichte nur im Erdgeschoss stark verändert haben.  Darüber sehen die Fassaden noch ganz so aus wie im 19. Jahrhundert.

Viele Fassaden in der Oranienstraße haben sich mit der Zeit wenig geändert.

Es sind aber nicht nur die Fassaden, die diese Straße (und diese Stadt!) ausmachen.  Die Stadt geht hinter den Häusern an der Straße noch weiter.  Auch die Hinterhöfe und Hinterhäuser sind oft sehenswert, weil sich hier Orte der Arbeit, der Bildung oder der Erholung befinden. 

Oranienstraße 185 und 183
Mehr über den Hinterhof

In der Oranienstraße 185 / 183 entdecken wir einen Hofgarten und drei bzw. vier weitere Höfe, wo es eine bunte Vielfalt von Betrieben gibt.

Wenn wir weiter gehen, kommen wir an der nächsten Kreuzung auf einen weitläufigen Platz, den Oranienplatz, der seinen Namen von der französichen Konigsfamilien Orange bekam.  Nach Plänen des Stadt- und Gartenplaner Lenné ausgelegt, wurde der Oranienplatz im 19. Jahrhundert zu einem der schönsten Stadtplätze Berlins. Im Herbst 2005 ist der Oranienplatz eine riesige Baustelle, als die Bundeshauptstadt versucht dem Platz wieder zu seiner alten Schönheit zu helfen. 

Bushaltestelle Oranienplatz: Baustelle
Der Oranienplatz: Baustelle
Der Brunnen: Baustelle

Könnten wir zu dem Brunnen aus Granitblöcken, so könnten wir von dem Brunnen aus sehen, dass der Oranienplatz Teil einer grünen Achse quer durch Kreuzberg ist und dass am nördlichsten Ende dieser Achse eine Kirche steht, die katholische Kirche Sankt Michael. Es handelt sich um den Kiez "Luisenstadt".

Kirche Sankt Michael
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Blick auf die Waldemarbrücke, die einst über den Luisenstädtischen Kanal führte

Im Jahre 1848 wurde nicht nur mit dem Bau der Kirche Sankt Michael begonnen, sondern zwischen ihr und dem Landwehrkanal (1km im Süden vom Standpunkt) der Luisenstädtische Kanal angelegt.  Von der Kirche verbreitert er sich zu einem künstlichen See, dem Engelbecken, von wo aus er nach rechts zur Spree führte und damit die zwei wichtigsten innerstädtischen Schifffahrtswege verband.  1928 wurde der Kanal wieder zugeschüttet und lange vergessen, bis man sich 1984 entschied, hier einen Park anzulegen.  Heute überlegt man, ob nicht ein neuer Kanal diese Nachbarschaft noch schöner machen würde. Der Bürgerverein Luisenstadt e.V. ruft dazu auf, den Luisenstädtischen Kanal wiederherzustellen, so dass in den kommenden Jahren die grüne Lebenslinie der ehemaligen Luisenstadt wieder erstehen wird.

Wir gehen nun vom Oranienplatz aus über den Legiendamm und biegen dort nach rechts in die Dresdener Straße.  Am Ende der Dresdener Straße befindet sich rechts das aufwändig restaurierte Haus Nr. 27.

Dresdener Straße 27

Dieses Haus war einmal der Eingang zu einer Markthalle.  Dahinter befinden sich, auf dem Gründstück mit der Nummer 28, zwei  modernere Gebäude aus dem Jahr 1965.  Das zweite Gebäude ist die katholische Kirche Sankt Michael.

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Dia-Tour: Mauerweg in der Sebastianstraße

Überqueren wir den begrünten dreieckigen Platz vor der (zweiten!) Kirche Sankt Michael merken wir von dem Straßenschild, dass es sich hier um ein Stück des Berliner Mauerwegs.   Von der Mauer gibt es keine Spuren zu sehen, aber man hat ihren Verlauf durch eine doppelte Reihe von Plastersteinen erkennbar gemacht.  Wenn wir um die 1965-Version von der Kirche St. Michael rechts herum in die Waldemarstraße gehen, sehen wir links das wild bewachsene Brachland.  Auch dies merkt den damaligen Verlauf der Mauer bzw. des Niemandslands zwischen der Mauer und dem Hinterland Grenzzaun vor den Ost-Berliner Häusern. 

Wir gehen nun entland der Parkanlage am Leuschnerdamm zurück zum Oranienplatz, überqueren die Oranienstraße und gehen schräg links in die Dresdner Straße.    Am anderen Ende sehen wir schon die Hochhäuser des "neuen Kreuzberger Zentrums", das als größtes Modernisierungsprojekt der 1970er Jahre am Anfang eines geplanten Abrisses aller alten Häuser und einer Neubebauung mit Hochhäusern und Autobahnen stehen sollte.

Blick von der Dresdener Straße zum "neuen Kreuzberger Zentrum"

Gegen diese Modernisierungspläne wehrten sich viele Kreuzberger.  Als erstes organisierten die Geschäftsleute der Dresdener Straße ihren Protest, weil sie durch den Neubau ihre Laufkundschaft verloren.  Später kamen junge Leute hinzu, welche leer stehenden und vom Abriss bedrohten Häuser besetzten und auf eigene Faust renovierten.  In den 1980er Jahren kam es in ganz Kreuzberg zum "Häuserkampf":  Hausbesetzer und ihre Sympathisanten demonstrierten und kämpften oft tagelang mit der Polizei und den Hauseigentümern um jedes einzelne Haus.  Am Ende führten die politischen Debatten und Diskussionen in der Stadt zu einem Undenken in der Wohnungsbaupolitik.  Es entstand das Konzept der "behutsamen Stadterneuerung" bei der altes nach Möglichkeit bewahrt, die alten Blockstrukturen beibehalten und die von der Baupolitik Betroffenen immer beteiligt werden. 

Diese Wandmalerei gedenkt die Aktionen der 1970er und 1980er gegen Abriss von Altbauhäusern

Die Dresdener Straße ist seit den 1970er jahren ein Ort des lokalen politischen Protests. Wohl auch deswegen hat die Partei "Bündnis 90/Die Grünen hier in Haus Nr. 10 ihr Wahlkreisbüro für den Wahlkreis Kreuzberg - Friedrichshain.

Kreuzberg - Friedrichshainer Wahlkreisbüro der "Bündnis 90/Die Grünen"

Wir gehen nun unter dem Querriegel des "Neuen Kreuzberger Zentrums" hindurch bis zum Fuß der Treppe.  Eine Informationstafel zeigt unter der Inschrift "Zentrum Kreuzberg — Gesamtübersicht Gewerbe...", wie und von wem die Geschäfte und Büros im Erdgeschoss und ersten Stock des Zentrums genutzt werden.

"Neues" Kreuzberger Zentrum

Wir gehen nun weiter auf die große Kreuzung zu, überqueren die Reichenberger und die Kottbusser Straße.  Wir unterqueren die Hochbahn (U-Bahn-Linien U-1 und U-8) und folgen auf der anderen Seite der Admiralstraße.  Da stehen wir wieder unter dem Querriegel eines modernen Wohnhochhauses im Schatten der Hochbahn.

Anfang der Admiralstraße im Schatten der Hochbahn

Die Admiralstraße ist ein perfektes Beispiel der historischen Entwicklung von Kreuzberg KO 36. Hier leben nebeneinander wascheschte Berliner mit altpreußichen Ahnen und relativ neu gewordene Berliner mit stolzen orientalischen Wurzeln; beide haben seit den 1970er Jahren durch bürger- und lokalinitiative dafür gekämpft, dieser Kiez als Wohnort zu retten. Die Admiralstraße bietet wenige Schritte von einander entfernt zwei bezaubernde Mauerkunstwerke und ein Denkmal, die alle drei die Geschichte und Zukunft des Kiezes als Thema haben.

"Kinder sind unsere Zukunft" verspricht diese Wandmalerei in der Admiralstraße

Gegen Abrisspolitik

Schülerinnen der Jens-Nydal-Grundschule am Denkmal "Doppelter Admiral"

Am Ende der Admiralstraße gelangen wir dann zum Landwehrkanal.  Dieser alte Schifffahrtsweg, der zur Gründerzeit erbaut wurde, um die Vergrößerung der Stadt im Laufe der industriellen Revolution zu ermöglichen, wird heute noch viel jedoch eher als Erholungsgebiet genutzt, was ein Blick von der Admiralsbrücke sehen lässt.

Auf der Admiralbrücke über dem Landwehrkanal

Der Landwehrkanal mit Booten und Schwänen

Die Uferstraßen am Kanal gehören zu den beliebtesten Spazierwegen und Wohngegenden Berlins.  Hier wurden in den 1980-er Jahren im Laufe der Internationale Bau-Ausstellung viele Wohnungen mit zu der Zeit architektonisch neuen Richtungen.

Internationale Bau-Ausstellungs-Häuser
am Landwehrkanal

Solche IBA-Häuser sind heute noch sehr begehrt, sind aber auch viel seltener zu finden als die Reihenhäuser, die im Laufe der Bauprogramm der 1970-Jahre das Gesicht von Kreuzberg SO-36 geprägt hat und heute noch zum großen Teil prägt. 

Kreuzberg SO-36 Reihenhäuser

Die bunten Farben dieser Häuser zwischen dem Landwehrkanal und der Hochbahn entsprechen der ethnischen, religiösen, kulinarischen, politischen und optischen Vielfalt des Kreuzberger lebens.


[1] "Stadterkundung: Kreuzberg zwischen Oranienstraße und Paul-Linke-Ufer", Goethe-Institut Berlin, 05/2004.; originelle Stadterkundung "nur für den internen Gebrauch des Fortbildungszentrums Berlin" wurde im November 2005 von RAKorb umgearbeitet und mit Links und Fotos erweitert.