Riemann, Hugo, Musikalische Dynamik und Agogik

(Hamburg :  D. Rahter,  1884.)

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2                                                             Einleitung.

über Phrasirung in verschiedenen Zeitschriften hat Dr. C. Fuchs*) ein Buch über
Metrik, Dynamik und Phrasirung ausgearbeitet.

Von Westphal's Darstellung im einzelnen bin ich nun freilich sehr ab¬
gewichen. — Die antike Terminologie habe ich gänzlich fallen lassen — ich
habe mit meiner „Musikalischen Syntaxis" die Erfahrung gemacht, dass die
Musiker das Griechische nicht lieben. —

üebrigens waren es doch nicht allein die Bücher von Lussy und Westphal,
was mich zu einer Neubearbeitung der Taktlehre anregte, man wird bereits in
meiner „Musikalischen Syntaxis" (1877) Anläufe dazu finden. Wer der neueren
musikalischen Journalistik aufmerksam gefolgt ist, wird noch gar manches zu
nennen wissen, was geeignet war, in der bezeichneten Eichtung anregend zu
wirken; es ist von verschiedenen Seiten über Phrasirung, über die Bogen-
bezeichnung der Notenschrift, über Freiheit der Tempobehandlung**) etc. ge¬
schrieben worden, und ziemlich klar hat sich die Erkenntniss herausgebildet,
dass da noch manches ziemlich im Argen liegt und einer gründlichen Eevision
bedarf.

Was aber schliesslich riieine Pläne zur Eeife brachte und meine Absichten
zur That werden Hess, war die Entdeckung, dass schon vor hundert Jahren ein¬
sichtsvolle Männer den Mangel unserer Notenschrift erkannt haben, welcher der
Entwickelung des rhythmischen Auffassungsvermögens hemmend entgegenstand,
nämlich das gänzliche Fehlen unzweideutiger Zeichen für die motivische
Gliederung, die Phrasirung. In neuester Zeit hat man angefangen, den
Legatobogen nach Möglichkeit als Zeichen der Phrasirung mit zu verwenden
(Bülow, Lebjert, Scholtz und Klindworth), hat aber damit nicht viel ge¬
bessert; es war daher alles Ernstes der Frage näher zu treten, ob wir nicht
die Bezeichnung der Phrase zu einem integrirenden Bestandtheile
der Notenschrift machen müssen, wie dies bereits im vorigen Jahrhundert
D. G. Türk anstrebte. Da ich anderweit die bezüglichen Stellen aus Türk's
„Klavierschule" (1789), sowie die noch älteren Erörterungen über Phrasirung
von J. P. A. Schulz in Sulzer's „Theorie der schönen Künste" (1772) zum Ab¬
druck gebracht habe (in meiner „Vergleichenden Klavierschule"***), in einem
Artikel über Phrasirung im „Musikalischen Wochenblatt" 1883, No. 6 ff.f) u. s. w.),
so begnüge ich mich hier mit dem blossen Hinweise. Mit ganz besonderer
Auszeichnung muss ich aber noch eines Werkes gedenken, das, von den Zeit¬
genossen kaum beachtet und von den nachfolgenden Generationen längst ver¬
gessen, die Lehre von der thematischen Gliederung mit einer Klarheit und
Umsicht abhandelt, die wir in den Werken der letzten 100 Jahre so schmerzlich
 

*) Die Zukunft des musikalischen Vortrages und sein Ursprung (Danzig,
W. Kafemann 1884). Mit Freuden begrüsse ich diesen wackeren Bundesgenossen! Möge
das übermässige Lob, welches Fuchs meinen Leistungen spendet, nicht abhalten, die ganz
vortrefflichen eigenen Gedanken zu würdigen, welche er mit Begeisterung für die Sache
vorträgt!

**) Vgl. Dr. Otto Klauwell, Der Vortrag in der Musik (Berlin, 1883).
***) Hamburg, D. Rather (System, S. 40 ff.)
t) Wieder abgedruckt in dem oben genannten Buche von Dr. Fuchs.
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