Brunn, Enrico, Denkmäler griechischer und römischer Sculptur

(München :  F. Bruckmann,  1888-1947.)

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561. Archaischer Torso der Aphrodite.

Lyon^ Museum.
 

Catalogue sommaire des musees de la ville
de Lyon (1899): Musee des antiques, n° 1, p. 197
(Abbildung), 200. — Montfaucon, Antiquite ex-
pliquee, II, 2 (1719), p. 341, pl. CXXXIX, 2. —
Grosson, Recueil des antiquites et monuments
marseillois (1773), p. 171, n^ 2, pl. 25, 2 (die
Abbildung im Gegensinne!). — Clarac 626 A,
1290 B. — Reinach, repertoire II, 2, 649, 4. —
Comarmond, Description des antiquites et ob-
jets d'art contenus dans les salles du Palais des
Arts de la ville de Lyon (1855 — 1857), p. 145,
n« 20. — Gazette archeologique 1876, p. 133—134,
pl. XXXI (F. Lenormant). — Collignon, Mytho¬
logie fig. de la Grece, p. 141, 143, fig. 53. —
H. Bazin, L'Aphrodite marseillaise du musee
de Lyon (1886; Paris, Leroux). — Collignon,
histoire de la sculpture grecque, I, p. 190, fig. 90.
— Pawlowski, die attische Sculptur vor den
Perserkriegen [russisch], p. 217, Fig. 72. —

Die Statue ist kürzlich zum ersten Male ge¬
formt worden. Der Abguss ist von M. Vacher,
Lyon, rue Paul-Chenavard 23, zu beziehen.

Als Fundort der Statue gilt allgemein der
Boden von Marseille; auf der rue des consuls
sei sie zu Tage gekommen. Diese Angabe, die
Grosson in ziemlich unbestimmten Ausdrücken,
nach dem Zeugnisse eines Andern, überliefert,
verdient nur bedingten Glauben. Grossons
Buch ist 1773 erschienen, als die Statue schon
länger als 50 Jahre bekannt war; Montfaucon,
der sie 1719 veröffentlichte, sagt kein Wort
über Ort und Zeit des Fundes. Sicher weiss
man nur, dass zwei Sammler in Marseille (Gra¬
vier und der Abbe Boule) sie im 18. Jahrhundert
in Besitz hatten. Zu Grossons Zeiten war sie
anscheinend nicht mehr in Marseille i), sondern
in einer Privatsammlung in NTmes; denn Artaud
(Cabinet des antiques du Musee de Lyon, 1816,
p. 5, G)  erwähnt   sie   mit   den Worten:   „Isis,
 

') Grosson hat sie offenbar nicht selbst gesehen,
da er sie für eine Bronze hält; ausserdem hat er nicht
bemerkt, dass seine Zeichnung sie im Gegensinne
wiedergiebt. Die „Zeichnung dieser Bronze" hatte er von
M. Gravier erhalten (vermutlich einem Nachkommen des
Sammlers Gravier, der die Figur zu Montfaucons Zeiten
besass), und von eben diesem Herrn Gravier stammte
die Angabe, die Statue sei ein „Ergebnis der Funde auf
der rue des consuls". Man wird diese Mitteilung, in
Anbetracht der übrigen Irrtümer Grossons, nur mit
grosser Vorsicht benützen dürfen.
 

aus Marmor, früher in Marseille, dann in NTmes".
Wann oder wie sie in das Museum von Lyon
kam, weiss man nicht; aus Artauds oben er¬
wähntem Kataloge geht hervor, dass sie bereits
im Anfange des 19. Jahrhunderts  dort war. —

Möge die Statue aber auch wirklich in Mar¬
seille selbst zu Tage gekommen sein, so ist es
doch keineswegs sicher, dass sie dort auch ge¬
fertigt worden ist. Ebensowenig wahrschein¬
lich ist die Vermutung, dass sie im 6. Jahr¬
hundert von auswärts nach Marseille importiert
worden sei, z. B. im Jahre 542, als ein Teil
der Phokäer gelegentlich der Einnahme ihrer
Stadt durch Harpagos von Neuem sich nach
ihrer Colonie in Gallien gewandt haben wird.
Am nächstliegenden ist jedenfalls die Annahme,
dass die Statue zufällig von einem Marseiller
Schiff als Ballast aus der Levante heimgebracht
worden ist. Ihre ursprüngliche Herkunft wird
also voraussichtlich stets unbekannt bleiben.

Der Marmor ist sehr weiss und sehr fein¬
körnig, vom sog. Inselmarmor durchaus ver¬
schieden. Er ähnelt vielmehr dem pentelischen;
doch kann ich nicht versichern, dass es auch
wirklich dieser ist. Als Untersatz dient jetzt
der Figur ein marmornes Architektur-Fragment
aus später römischer Zeit; auf der Rückseite
wird sie ausserdem durch einen Klotz aus ge¬
ädertem Marmor gestützt, der in roher Weise
durch Cement und Gips mit ihr verbunden ist.
Die Totalhöhe der Statue beträgt 0,62 m; die
Proportionen  sind  also stark unterlebensgross.

Der Torso ist namentlich im untern Teile
der Rückseite schlecht erhalten. Links neben
dem obern Ende des eben erwähnten stützenden
Marmorblockes steckt in der Figur der Rest
eines stark verbleiten senkrechten Metalldübels,
der offenbar zur Anstückung der jetzt fehlen¬
den Teile der Rückseite diente. Der Versuch,
ihn zu entfernen, mag die starke Verletzung
dieser Partieen verursacht haben. In der Bruch¬
fläche der linken Schulter steckt ebenfalls ein
kleiner Eisendübel, der von einer Restauration
des Oberarmes herzurühren scheint; denn dass
er zur Anstückung des ganzen Armes gedient
habe, ist nach seinen Dimensionen, seinem
Platze und dem Charakter der Bruchfläche
ausgeschlossen. Die Taube war früher als
Käuzchen   ergänzt   und  erscheint   so   auf   den
 

Denkmäler griech. u. röm. Sculptur
Tafel 561.
 

Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G.
München  1903.
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