Brunn, Enrico, Denkmäler griechischer und römischer Sculptur

(München :  F. Bruckmann,  1888-1947.)

Tools


 

Jump to page:

Table of Contents

  Page [30]  



Zeichnungen von Montfaucon und Grosson;
die Figur wurde deshalb als Minerva be¬
trachtet. Diese Restauration ist jetzt glück¬
licherweise entfernt.

Im Übrigen ist es leicht, sich das ehemalige
Aussehen der Figur vorzustellen. Die Richtung
eines Teiles der Chitonfalten auf dem Bauche
zeigt, dass sie nach aussen verliefen und von
der linken Hand gehalten wurden. Die Statue
hatte also den gewöhnlichen Typus archaischer
Frauenfiguren: die Füsse mit voller Sohle auf¬
stehend, das linke Bein etwas vor, den linken
Arm abwärts, die linke Hand die Chitonfalten
emporziehend.

Die Figur ist mit einem gegürteten Ärmel¬
chiton und dem Himation bekleidet. Soweit
er den Oberkörper bedeckt, ist der Chiton
jetzt glatt; er war ehemals durch Farbe ge¬
gliedert. Der enganliegende, fast bis zum Hand¬
gelenk reichende Ärmel findet sich bisher nur
auf Werken, die aus dem griechischen Osten
stammen oder von orientalischer Kunst beein-
flusst sind; er gehört barbarischer, nicht grie¬
chischer Mode an2). Das Himation ist auf der
linken Schulter befestigt — auch dies in Ab¬
weichung von der gewöhnlichen Sitte, die das
Himation nie auf der nämlichen Seite knüpft,
auf welcher die Chitonfalten von der Hand
emporgerafft werden. Auf dem Kopf ruht ein
niedriger, nach oben sich verbreiternder Polos,
in dessen gerauhter Oberseite der geringe Rest
eines dicken Eisenstabes steckt, der als Vogel¬
abwehr diente. Das Haar begrenzt die Stirn
in flachen Wellen, die wie die Canneluren einer
Säule aneinandergereiht sind. Hinten ist die
Haarmasse, vom Ansatz des Polos an bis zur
Höhe der Ohren, in fünf horizontale Parallel¬
streifen gegliedert. Darunter wird sie durch
ein aus drei schmalen Schnüren gebildetes
Band, das von einem Ohr zum andern reicht,
festgehalten 3), und unterhalb dieses Bandes be¬
deckt sie in Form von elf aneinanderklebenden
langen gewellten Locken den Rücken. Drei
entsprechende, aber von einander gelöste Locken
fallen jederseits vorn auf Schultern und Brust
tief herab. Der Ohrschmuck besteht aus einer
kreisförmigen Scheibe, an welcher drei Gehänge
angelöthet sind, die sich aus je drei kleinen
Kugeln zusammensetzen4). Von Hals- und Arm¬
schmuck, die durch Farbe angedeutet gewesen
sein könnten, hat sich jede Spur verloren. Die
Taube in der Rechten würde man für das Weih-
 

2)  Vgl. Amelung   in   Pauly-Wissowas   Realencyclo-
pädie s. V, xe^p^^coT^o^ x^'^^^'

3)   Gut kenntlich auf der Abbildung des Profils.

4)  Vgl. Karl Hadaczek, der Ohrschmuck der Grie¬
chen und Etrusker, p. 19, Fig. 33.
 

geschenk einer Sterblichen halten5), wenn nicht
der Polos uns zwänge, Aphrodite selbst mit
ihrem Lieblingsvogel in der Figur zu erkennen^).

Farbspuren sind nur in ganz geringer Anzahl
noch erhalten. Man erkennt noch etwas Rot
auf den Haaren, über der linken Stirnseite, auf
dem Polos und auf dem Chitonärmel. Die Vor¬
zeichnung der farbigen Ornamente hingegen, die
Polos und Ärmel schmückten und mit Stichel
oder Meissel, wie gewöhnlich, vorgerissen sind,
ist noch sehr deutlich zu sehen. Die sorgfältig
geglättete Aussenfläche des Polos weist ein
Geflecht von Palmetten und Lotosblumen auf
(Bazin, p. 17, fig. 2), das sie in ihrem ganzen Um¬
fang und ihrer ganzen Höhe bedeckt^). Auf der
Aussenseite des Ärmels erstreckt sich eine
doppelte Reihe von Mäandern von der Schulter
bis zum Handgelenk (Bazin, p. 18, fig. 3), und
ein einfacher, schmälerer Mäanderstreif, der heute
kaum mehr zu erkennen ist, zierte das Ende des
Ärmels, oberhalb des Handgelenks, zu beiden
Seiten des senkrechten mittleren Mäanders.

Die Arbeit der Statue, besonders an Haar
und Auge, ist hart, scharf, trocken, der Ge-
sammteindruck dabei aber plump und massig.
Die Lippen steif und unbewegt, ohne feine En¬
dung in den Winkeln; kein Lächeln belebt die
Züge. Ganz ungeschickt und kenntnislos die
Ausführung der Ohren. Die breiten, eckigen
Schultern, die geringe Erhebung der Brüste, der
kurze dicke Arm geben der Statue fast etwas
Männliches. Der Oberteil des Chitons scheint
eher aus steifem Leder als aus weichem Stoff
gefertigt zu sein. Die Himationfalten stossen
ohne Relief aneinander; sie sind einfach durch
vertiefte Linien angegeben, und selbst diese
verschwinden auf der rechten Seite und im
Rücken, wo der Stoff ganz glatt ist. Auch die
Arbeit von Hand und Armansatz ist nüchtern
und leblos.

Man hat schon seit Langem erkannt 8), dass
die Statue von Lyon, als Werk der zweiten
Hälfte des sechsten Jahrhunderts, dem näm¬
lichen Kunstkreise angehört, wie die Statuen
der Branchiden, die „Hera" von Samos im
Louvre, der angeblich aus Rhodosto, wohl eher
aber aus Rhodos stammende Kopf in Constan-
tinopel9).   Man kann  diesen Werken den Kopf
 

5)  Wie bei einer der Koren der Akropolis: Collignon,
histoire de la sculpture grecque I, p. 354, fig. 179.

6)   So wird die Figur bereits richtig bei Clarac benannt.

7)   Sehr ähnlich demjenigen auf dem Polos eines ar¬
chaischen Kopfes der Akropolis: Katalog 696; Revue arch.
1889, II, p. 397, pl. XXIII.

8)   Gaz. arch. 1876, p. 134 (F. Lenormant); 1884, p.90
(S. Reinach); Bazin a. a. O. p. 23.

9)   Bull, decorr. hell. VIII, 1884, p.336fP. (Heuzey).
  Page [30]