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Aufruf : November 1927

Photogrammarchiv, Vienna: Appeal for Contributions of Photographic Materials

MUSIKSAMMLUNG DER NATIONALBIBLIOTHEK WIEN

ARCHIV FÜR PHOTOGRAMME MUSIKER MEISTERHANDSCHRIFTEN

WIDMUNG A. van HOBOKEN [—] WIEN, I. AUGUSTSTINERBASTEI 6
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AUFRUF

Die Werke der Meister der Tonkunst sind uns heute in der Hauptsache nur bekannt nach den Ausgaben, die von ihnen im Umlauf sind. Diese Ausgaben sind aber meistens von anderen bearbeitet und entsprechen in mehrfacher Hinsicht nicht mehr getreu dem Original.

Während es in anderen Kunstgattungen, beispielsweise in der Literatur, ausgeschlossen scheint, die Werke anders zu verlegen, als die Dichter selbst sie geschaffen haben, fühlt sich in der Musik ein jeder berufen, in den großen Werken der Meister die nach seiner Ansicht notwendigen Änderungen anzubringen und sie in dieser veränderten Form der Öffentlichkeit zu übergeben. Das Publikum bermerkt nicht, und kann auch nicht bemerken, was für Entstellungen es sind, womit man es hier zu tun hat; wo ihm aber die Gelgenheit gegeben wird, ihrer gewahr zu werden, da bekennt es sich lieber zur Fassung des Herausgebers als zu der des Komponisten. Sogar wenn ein lebender Komponist das Wort dagegen erhebt, nimmt es eher an, er übertreibe, als daß es die Richtigkeit seiner Worte prüfte.

Man stelle sich jedoch einmal Folgendes vor: ein Verleger gibt ein Bändchen Gedichte von Goethe heraus, die ein anerkannter moderner Dichter dahin bearbeitet hat, daß er z. B. die Interpuunktionszeichen willkürlich ändert, die Zeilenordnung anders einteilt, alle Hauptbuchstaben entfernt, einige Artikel streicht und dergleichen mehr, mit der Begründung, daß die Gedichte in dieser Form unserem modernen Zeitempfinden besser entsprächen, und daß Goethe, hätte er nur den Herausgeber persönlich gekannt, sicherlich auch seiner Ansicht gewesen wäre. Ist es anzunehmen, daß irgend jemand solcherart “herausgegebene” Gedichte als solche von Goethe stammend anerekennen wird?

Aber in der Musik nimmt man ohne weiteres eine Ausgabe von J. S. Bachs “Wohltemperiertem Klavier” als authentisch an, in welcher der Herausgeber einige Fugen des zweiten Teiles an entsprechende Stellen des ersten gesetzt hat und umgekehrt, angeblich aus “technischen” oder “ästhetischen” Gründen und weil Bach “sich bei der Anordnung anscheinend lediglich durch die Tonalität beistimmen ließ, wobei jener noch ein Urteil fällt über das “ausgesprochene Mißverhältnis” der Bachschen Anordnung. Oder es werden in Ausgaben der Sonaten von Haydn, Mozart und Beethoven willkürlich Phrasierungsbögen und neue dynamische Bezeichnungen eingefügt, ja es kommt sogar vor, daß fremde Noten und inidividuell empfundene Tempibezeichnungen wie bei Chopin und Scarlatti mit dem ausdrücklichen Vermerk: “Wie ich es spiele” hinzugefügt wurden; von Balken- und Taktstrichänderungen, gelgentlicher Halbierung oder Verdoppelung des ursprünglichen Taktwertes (“aus optischen Gründen”) ganz zu schweigen.

Fürwahr, es bestünde die Gefahr, daß man, auf diesem Wege fortschreitend, eines Tages die ursprüngliche Gestalt eines Musikstückes gar nicht mehr zu erkennen vermöchte, wenn nicht zuletzt irgendwo das Autograph des Meisters über das Werk den richtigen Aufschluß gäbe. Man macht aber immer wieder die Erfahrung, daß die Herausgeber das Autograph nicht sonderlich beachten. Dies liegt nur zum Teil daran, daß es meistens nur eine Handschrift eines Werkes gibt und diese sich dann etwa an einem Orte befindet, wo sie vielleicht nicht allen zugänglich wäre. Die Hauptursache ist vielmehr, daß man das Autograph nicht ernst genug nimmt und von der Bedeutung desselben nicht überzeugt ist. Es {2} ist mir z. B. bekannt, daß Herausgeber der Gesamtausgabe eines Meisters bei der Revision die Einsichtnahme in die vorhandenen Autographen als “überflüssig” abgelehnt haben, und noch in jüngster Zeit äußerte ein angesehener Fachmann in einer großen Zeitung die Ansicht, die Handschriften Beethovens hätten als solche nur einen “Sammlerwert”.

Allerdings, wenn man die Betonung in diesem Wort auf die letzte Silbe legt, verkörpert ein Autograph tatsächlich einen derartigen Wert, daß nur Sammler, bezw. öffentliche Sammlungen, es non erstehen können. Und das ist gut so, weil dadurch die Gewähr besteht, daß das Stück geschont wird und der Nachwelt noch lange erhalten bleibt. Auch wird es meistens dort der Öffentlichkeit zugänglich sein, obgleich das noch lange nicht genügt, um die Kenntnis desselben auch weiteren Kreisen zu vermitteln.

Da aber die Handschrift für das richtige Studium der Meisterwerke die beste, ja die einzige Quelle darstellt, ist es notwendig, mittels photographischer Wiedergabe des Originals die möglichst weite Verbreitung desselben zu fördern! Zugleich bietet die photographische Aufnahme noch den Vorteil daß, falls doch allmählich durch die Zeit oder andere Ereignisse ein Autograph verloren gehen sollte, das Abbild immer wieder Gelegenheit gibt, des Meisters Intentionen zu erforschen. Das Original kann auch besser geschont werden, sobald ein getreues Abbild davon vorhanden ist.

Zu diesem Zwecke habe ich mich entschlossen, ein Archiv anzulegen, in welchem die photographischen Aufnahmen der wichtigsten Handschriften unserer musikalischen Großmeister aufbewahrt werdensollen, wo sie besichtigt werden können und wo auf Wunsch Abzüge derselben angefertigt werden, um sie Interessenten zur Verfügung zu stellen. Dieses Archiv habe ich der Nationalbibliothek in Wien gewidmet, und durch die Annahme meiner Widmung wurde ich in die Lage versetzt, mit Hilfe des Weltrufes dieses Institutes meine Arbeit unter den denkbar günstigsten Umständen beginnen zu können.

Das Archiv wird durch ein Kuratorium verwaltet werden, welches aus drei Mitgliederen besteht.

Ich schätze mich glücklich, Herrn Dr. Heinrich Schenker (Wien) bereit gefunden zu haben, einen Sitz in diesem Kuratorium einzunehmen und damit dem Archiv seine unschätzbaren Kenntnisse und Erfahrungen auf diesem Gebiete zu Verfügung zu stellen. Ist doch er es gewesen, der in Wort und Schrift stets wieder die Bedeutung der Autographen betont hat, der immer dafür eingetreten ist, sie photographieren zu lassen und sie allein der Herausgabe von Meisterwerken der Musik zugrunde zu legen; und war es, der in seiner Erläuterungsausgabe der letzten fünf Sonaten Beethovens hiervon das beste Zeugnis in Tat und Gesinung abgelegt hat. Unter seinen Auspicien ist auch der Plan, den ich hier auseinandersetze, allmählich in mir gereift und zur Tat geworden.

Ein weiteres Mitglied des Kuratoriums beizustellen, hat sich de Generaldirektion der Nationalbibliothek Wien vorbehalten. Sie entsendet Herrn Dr. Robert Haas, den verdienstvollen Leiter ihrer Musiksammlung, Privatdozenten an der Universität Wien. Seine gründlichen Kenntnisse und sein hervorragender Ruf in der Musikgelehrtenwelt werden dem Archive sehr zugute kommen.

Den Vorsitz des Kuratoriums werde ich einnehmen.

Das Kuratorium entscheidet über die Wahl der Stücke, die aufgenommen werden sollen. Einstweilen wird diese Wahl beschränkt bleiben auf die wichtigsten Werke von J. S. Bach, Händel, J. Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert und Chopin, sowie von Dom. Scarlatti, C. Ph. E. Bach, Brahms und vielleicht auch noch von Fr. Couperin. Ob auch zeitgenössische Abschriften und Erstausgaben aufgenommen werden sollen, ob ferner die Wahl noch auf andere Komponisten ausgedehnt und ob das Archiv dazu übergeben wird, Ausgaben auf Grund seiner Bestände selbst zu veranlassen, muß außer von der Entscheidung des Kuratoriums, wesentlich von den zur Verfügung stehenden Mitteln abhängen. Zunächst stele ich allein diese bei.

Wien, im November 1927 [—] A. van Hoboken

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[second part of document, aimed mainly at private collectors and dealers; no letter-head]

Das Archiv für Photogramme musikalischer Meisterhandschriften an der Musiksammlung der Nationalbibliothek Wien hat den Zweck, photographische Aufnahmen von Handschriften bedeutender Meisterwerke der Tonkunst zu vereinigen. Es wird diese Aufnahmen womöglich nach dem photostatsichen Verfahren, das allerorts geübt wird, in der Originalgröße anfertigen lassen und die so gewonnenen Negative aufbewahren. Diese geben das Notenbild in weißer Schrift auf schwarzem Grunde wieder, aber nicht im Spiegelsinn, sondern manuscriptgetreu. Sie können in den Amtsräumen des Archivs in der Musiksammlung der Nationalbibliothek Wien, I. Augustinerbastei Nr. 6 (Albrechtsrampe), während der Amtsstunden (Werktags von 9 bis 15 Uhr) besichtigt werden. Sie werden grundsätzlich nicht verschickt, doch wird das Archiv auf Wunsch nach demselben Verfahren Positive anfertigen und sie Interessenten gegen einfache Vergütung der Herstellungs- und Versandkosten zukommen lassen. Das photostatische Verfahren gibt Gewähr für deutliche Wiedergabe zu verhältnismäßig niederen Preisen, sodaß die Abzüge für alle, die sich aus beruflichen oder aus anderen Gründen in die Handschriften der Meister vertiefen wollen, erschwinglich sein werden.

An alle öffentlichen und privaten Sammlungen, persönlichen Besitzer von Handschriften und an alle Antiquariate richten wir hiermit die ergebene Bitte, uns bei unserem Streben behilflich zu sein, indem sie uns die Zustimmung zur Aufnahme der in ihrem Besitz befindlichen Stücke geben. Sie werden besonders gebeten, um der Sache willen, Handschriften, die sie veräußern müssen, vorher dem Archiv zugänglich zu machen, beziehungsweise auf seine Kosten (nach vorheriger Verständigung) aufnehmen zu lassen. Auch unbekannte oder unveröffentliche Handschrifte bitten wir, für das Archiv in Abzügen zu retten, bevor sie wieder ins Ungewisse dahinschwinden. Dabei kann ein Vorbehalt der Veröffentlichung sowie der Vervielfältigung und der Verbreitung im Faksimile-Verfahren gemacht werden oder in besonders heiklen Fällen die Aufnahme vorläufig in Händen des letzten Besitzers des Autographs bleiben. Es geht hier um nichts weniger als um die Erhaltung unserer Tonkunst, da nur die Kenntnis der Handschrift die Fehler zu berichtigen vermag, die sich in die Ausgaben eingeschlichen haben. Besonders den Privatbesitzern und Händlern gegenüber sei hier noch betont, daß unserer Ansicht nach die photographische Wiedergabe einer Handschrift den Wert derselben nicht nur nicht beeinträchtigt, sonder daß vielmehr, wenn die Bedeutung einer Handschrift in weiteren Kreisen erkannt wird, diese im Werte steigen wird. Auch können die Besitzer, die aus irgendwelchen Gründen ihren Namen nicht genannt wissen wollen, stets auf unsere Diskretion rechnen. Andererseits sind wir bereit, auf Wunsch die Namen der Besitzer auf allen Abzügen ihrer Stücke zu verewigen, da der Besitz kostbarer Handschirften doch sehr ehrenvoll ist.

Wir haben uns, wenn für die Aufnahme nichts anderes vereinbart wird, vorgenommen, den Besitzern als Vergütung für die Zustimmung nicht nur einen positiven Abzug ihrer Handschrift zu überlassen, sondern auch noch den Abzug irgend eines anderen Werkes aus unseren Beständen von ähnlichen Umfang nach ihrer Wahl. Auch diejenigen, die uns eine von uns gesuchte Handschrift zur Aufnahme vermitteln, wollen Anregungen für unsere Sache werden, von welcher Seite immer, stets willkommen sein, und wir bitten Zuschriften nur an obenstehende Adresse zu richten.

Für den Anfang haben wir folgende Werke in Aussicht genommen:

J. S. Bach:
Kantate “Du Friedensfürst, Herr Jesu Christ”
Solo-Sonaten für die Violine
Das Wohltemperierte Klavier, erster und zweiter Teil

Händel:
Orgelkonzerte
Klaviersuiten, erster Teil (soweit erhalten)

J. Haydn:
Eine Symphonie
6 Streichquartette
3 Klaviersonaten
Capriccio für Klavier

Mozart:
Die Zauberflöte
Symphonie in g-moll (Köch.-Verz. 550)
Klavierkonzert in A-dur (Köch-Verz. 488)

Beethoven:*)
Violinkonzert op. 61
Streichquartett in f-moll op. 95
Klaviersonate op. 109

Schubert:
Sonate in a-moll, bekannt als op. 164
12 Deutsche samt Koda (zum Teil gedruckt in den letzten Walzern op.127;
zum Teil ungedruckt
Die Winterreise, Liederzyklus

Chopin:
Scherzo b-moll op. 31
Ballade a-moll op. 38
Scherzo E-dur op. 39 [sic]
Nocturne f-moll op. 55, Nr. 1
Mazurka H-dur, op. 63, Nr. 1
Walzer om cis-moll op. 64, Nr. 2
Berceuse op. 57
Alles vorbehaltlich der Zustimmung der Besitzer.

Zuletzt möchten wir noch an alle Musikstudierende und Musikbefließene appellieren, einen möglichst regen Gebrauch von dem Archiv zu machen. Sie alle, die sich mit dieser erhabenen Kunst beschäftigen, mögen davon überzeugt sein, daß die Handschriften unserer Großmeistern die erschöpfendste Quelle sind für ein gründliches Studium dieser so schwierigen Materie und daß das Respektieren ihrer autoritativen Bedeutung gegenüber allen im Umlauf befindlichen Fassungen die einzige Handhabe dafür bietet, die Kunst der Meister aus dem anarchischen Chaos zu befreien, in dem sie sich heute befindet. Es ist der höhere Zweck des Archivs, Ihnen hierbei behilflich zu sein.

Das Kuratorium:

A. van Hoboken
Dr. Heinrich Schenker
Dr. Robert Haas

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*) Für die Aufnahmen der Handschriften Beethovens haben wir uns, um doppelte Arbeit zu vermeiden, mit dem Beethoven-Archiv in Bonn ins Einvernehmen gesetzt, wo bereits zu Anfang dieses Jahres ein ähnliches Vorhaben, wie wir es unterbreiten, angekündigt wurde, allerdings nur mit Beschränkung auf Beethoven.

(text transcribed by William Drabkin, 2006)

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