« OJ 9/31, [18] : 4-25-08 | Main | WSLB 5 : 5-21-08 »

OC 2/, p.20–21 : 5-18-08

Review of Harmonielehre, dated May 18, 1908

[ stamped: ] NEUES WIENER TAGBLATT [ handwritten: ] 18.V.08

Neue musikalische Theorien und Phantasien. Von einem Künstler. Erster Band: Harmonielehre. — Wie in jeder Kunst, so steht auch in der Musik im Anfange die Praxis. Ihr folgt langsam erst die Theorie nach, denn der schöpferische Geist läßt sich durch starre, dem flügelnden Verstande entsprungene Regeln nicht knechten. In der Wissenschaft kann man auf spekulativem Wege, durch logische Aneinanderreihung von Schlüssen zu allgemein gültigen Formeln gelangen, nie aber in der Kunst. Nicht willkürlich, nur dem drängenden Triebe folgend, seinem Innenleben künstlerisch gestaltend Ausdruck zu verleihen, schafft der Künstler, allerdings von gewissen, seiner Kunst innewohnenden Naturgesetzen unbewußt geleitet. Erst aus der Praxis wird die Theorie geboren. Diese der Kunst immanenten Gesetze und Grundlagen aufzudecken, sie zu ordnen und in ein einheitliches System zu bringen, ist die Aufgabe der Theorie. Doch gar bald vergaßen die Theoretiker, daß ihre Tätigkeit die sekundäre sei; sie stellten die Regel als das Primäre hin und verloren so den Zu-{21} sammenhang mit der lebendigen Kunst ganz aus den Augen. In Unterricht und Lehrbuch erschienen selbst zusammengeleimte tote Schulbeispiele und ausschließlich diese, anstatt an Beispielen aus Kunstwerken dem Jünger das Wesen seiner Kunst zu erläutern. Die Künstler aber schwiegen und schufen unbeirrt weiter. Erst in letzter Zeit griffen sie in diese Verkehrtheit ein, legten ihr gewichtiges Wort in die Wagschale und wurden selbst zu Lehrern. So erschien im Verlage der J. G. Cottaschen Buchhandlung in Stuttgart das vorliegende Buch, das geistvoll geschrieben und von tiefgründiger Sachkenntnis erfüllt, ebenso wie die vor einigen Jahren in der „Universal-Edition“ erschienene, ungemein lehrreiche Broschüre „Ein Beitrag zur Ornamentik“ desselben Verfassers (es ist der Wiener Komponist und Musikgelehrte Dr. Heinrich Schenker) auf durchaus künstlerische Basis gestellt ist und ...[?] von aller Schulsucherei, aber ebenso fern, trotz seines Titels, von verschwimmender Phantasterei aus einem künstlerisch-intuitiven Empfinden heraus das Wesen der harmonischen Phänomene zu erklären sucht. Das Buch, dessen Inhalt durch eine große Anzahl vortrefflich gewählter Beispiele aus Kunstwerken von der ältesten Zeit an bis auf Richard Strauß erläutert wird, zerfällt in zwei Teile, einen theoretischen und einen praktischen, der im Verhältnis zum Anfang des ersteren ein wenig rudimentär geblieben ist. Manches ist hier, wohl mit Absicht, nur gestreift, aber gleichwohl finden wir auch in diesem Teile viele Anregungen und Gedanken, die allein schon ein ungewöhnliches Interesse für das Buch erwecken. Es ist kein Werk für den Unreifen, kein Lehrbuch im gewöhnlichen Sinne; aber wer überhaupt zu lehren versteht, wird dieses Buch mit Nutzen lesen. Dem musiktechnisch Reifen, aber auch nur dem, der selbst künstlerisch denkt und fühlt, wird dieses Buch eines Künstlers ein fruchtbares Feld anregender Gedankentätigkeit sein.

____________________________________

COMMENTARY:
Format: review

FOOTNOTES:

--

SUMMARY:
[ NMTP I = Harmonielehre:] Review

About

This page contains a single entry from the blog posted on May 18, 1908 3:00 AM.

The previous post in this blog was OJ 9/31, [18] : 4-25-08.

The next post in this blog is WSLB 5 : 5-21-08.

Many more can be found on the main index page or by looking through the archives.

Powered by
Movable Type 3.34