Handwritten letter from Schenker to Julius Röntgen, dated April 13, 1901
Wien, den 13 April 1901
Verehrtester u lieber Herr Professor!
Für Ihre Zusage der Mitarbeiterschaft besten Dank! Hoffentlich sind[corr] Sie mit Weinberger & Comp. auch handelseins geworden: ich sah W. seit jener Stunde nicht mehr, u. weiss um das Ende der Sache daher gar nichts. Sie dürfen sich, wenn Sie sagen, dass, was Sie zu leisten haben, Ihr geistiges Eigentum sei [in höherem Sinne, als gewöhnliche Leistungen der allzuvielen Herausgeber) auch ein höheres Honorar, als das usuelle, ausbedingen. Und Weinberger wird es auch gewähren. Wenigstens werde ich es so halten mit der Ausgabe von C. [P.] E. Bach, die ich zu leisten versprochen. Ich weiss wahrhaftig nicht, soll ich mehr mich fürchten vor der Riesenarbeit, oder freuen auf das viele Schöne. Kennen Sie die Sonate Fdur {2} im Br&H.’s Urtext die zweite? Wie unendlich fein, u. ganz im Gegensatz zu den modernen Haupt- u. Seitensatzschreibern so frei u. überreich, so mannigfaltig sich darstellend! Wer schreibt heute so genial, wie gleich im T. 4 des ersten Satzes das letzte Achtel? Wie himmlisch geht das hinüber, kommend, gehend, wie eine leichte Muskelbewegung, ein Zucken nur! Nichts ist dick, nichts grob, kein Grund aufgedonnert, – Wille u. Ausführung, beide zart functionirend, herrlich!
Dass Bülow diese Sonate weglassen konnte, wäre mir unbegreiflich, hätte ich nicht den Drang, ihn eher etwas tiefer, als höher zu schätzen. Und habe ich Ihr [alt from Ihre] reizendes Bülowpamphlet[corr] verstanden, so scheinen auch Sie ihn weniger zu verhimmeln, weniger ernst zu nehmen, als die grosse, namengierige Menge. Bei dieser Gelegenheit möchte ich Ihnen wohl sagen, dass auch Brahms ihn nicht überschätzte: war doch Br. derjenige, der den Furor Teutonicus gedämpft hat, als die Ger- {3} manen nach Bülow’s Tode ein Nationaldenkmal verlangten. Ich kam damals, im Auftrage Harden’s aus Berlin, zu Brahms, u. er sagte: „Ach, was! ich habe Geld u. Mitwirkung zugesagt, aber nur für ein Friedhofsdenkmal in Hamburg. Mehr verdient B. nicht; er war jar nur ein Kapellmeister! Hat denn schon Wagner ein denkmal? u.s.w.” Wie schön, dass Br. trotz allem Dankgefühl so was zu sagen Muth hatte. Es ging dann auch nach seiner Meinung, die denkmalsfrage.
Und nun noch einige Worte zu meiner Sendung an Sie, die ich Ihnen versprochen. Ich bitte Sie um Ihr Interesse für die Invention No 2, auf die ich sehr stolz bin. Sie ist sogar ziemlich rasch, ich meine passionirt, gedacht, sehr ausdrucksvoll! Hier ist es hauptsächlich, wo ich das Moderne brachte. Es würde mich sehr freuen, wenn diese Inv. Ihnen gefallen wollte.
Dagegen zweifle ich gar nicht, – so fest überzeugt bin ich davon, u. sage es dennoch mit aller Bescheidenheit, die mir vor mir selbst u. vor Ihnen doch zukommt, – dass Ihnen unter {4} den Liedern ein einziges gefallen muss, ja, gefallen muss: „Der Ausklang”. Damit hat es übrigens eine düstere, unheimliche Bewandtnis. Denken Sie: Prof. Gärtner, der heuer einen Liederabend der „Jungen”, mit Einschluss R. Strauss’, gab ([corr]etwa 14–16 Lieder vortrug von 8–10 Autoren), wollte zwei Lieder von mir singen: unter allen Umständen das “Wiegenliedchen”, weil es ihm besonders durch dass pp, u. sonst angenehm lag, u. überdies ein angenehmes Gegengewicht gegen die übrigen Novitäten bot, die, wie schon heute einmal usus, allen Liedstyl sprengten, die Stimmbänder in Fetzen rissen, Tonarten u. Tonalitäten für überwunden erklärten, u – ausserdem noch den obergenanten „Ausklang”. Nun fügte es sich, dass er mehr Lieder seines Accompagnateurs, H. v. Zemlinsky, singen müsste, weil dieser in nächster Woche, in seiner Eigenschaft als Capellmeister am Carltheater die Operette Gärtner’s zu dirigiren hatte, – „eine Hand wäscht die andere”, u. er konnte nur das „Wiegen- {5} liedchen” singen, womit er, nebenbei gesagt, fast den besten Erfolg der Abends hatte . .
Nun aber, – hier setzt eine Tragik ein – denken Sie: am selben Abend des Concertes, fast auf die Stunde, auf die Minute genau, in der Gärtner mich vortrug, starb in Berlin der umgemein [recte: ungemein] sympatische Dichter der “Leuchtenden Tage”, der Autor des “Ausklangs” in Alter von nicht 32 Jahren!! Hätte Gärtner um diese Minute den “Ausklang” gesungen, wie eigentümlich wäre diese Zusammentreffen gewesen!
O! Lesen Sie Jakobowskis Gedichtsammlung. Ein so reiner, liebevoller Mensch! Ein ergreifendes Naturell.
Aus Allem Eingesandten aber werden Sie ersehen, dass es mir kein Spass ist, mit Enharmonik u Chromatik umzuspringen, so, wie man es gerne in kindischester Weise heute thut. Die Ursache alles heutigen Treibens ist meiner Ansicht nach wohl die: {6} Keiner hat ein so geniales Tonartgefühl, keine so geniale Mannigfaltigkeit der Erfindung u. was dasselbe Mannigfaltigkeit der Form, um so schreiben zu können, wie z. B. sagen wir: Schumann im Intermezzo op. 4 No 5, wo erst im Takt 20-21 – nach langer, schönster Fdur-haltung! – die eigentliche D-moll Tonica, u. zwar sich bereits einen anderen Motiv unterstellend, erscheint!
Und zunächst pp! Erst im T. 29 ff, Dmoll, das Achtelmotiv ff u. drüber hin aber eine neue Ballade aus Dm. – – Oder Brahms’ Gmoll Rhapsodie, die Sie so schön spielen: Erst im T. 9 erscheint die Tonica G(dur) (u. wie versteckt!) im T. 11 endlich die eigentliche Tonica Gm! Was ging der Alles voraus! Wie ging es zur Tonica hin! Ohne viel Federlesens dann auch von der Tonart weg nach Dm!
Und ein genialstes Beispiel der Enharmonik aus der Em Sonate Beethoven’s, im ersten Satz etwa T. 37 u ff. {7} Dieses b, dieses Bdur!!!
Und so meine ich: die meisten von heute müssen, da ihre Talentlosigkeit vor der Kunst sich leider nicht in Talent verwandeln will, u. sich doch etwas verändern muss rastlos in der Kunst, wenn nicht scheussliche Langeweile eintreten soll, eben die Töne raschestens verwandeln u. verändern. Wenn sie selbst in Erfindung u. Talent monoton, so sollen die Töne desto mehr sich verändern u. desto rascher, um die Monotonie des Autors nicht zu verrathen.
Ich halte fest daran: Tonart, Tonalität, Modulation, Chromatik, Enharmonik dürfe man Kindern nicht in die Hand geben, ebensowenig als Feuer. Das ist ja kein Spass. Und vor Allem Synthese! die muss Geist in jedem Winkel haben, u. desto schöner, je weniger auffallend, aufdringlich, je stylvoller!
Zum Schluss, verehrter, lieber H. Professor noch Eins: Sollte Prof. Mes[s]chaert gelegentlich Lust haben, den “Ausklang” zu singen (nur bei aufrichtigster Ge- {8} sinnung natürlich!), so wird, hoffe ich, H. Gutmann keine Schwierigkeiten machen. Denn als H. E. d’Albert vor paar Jahren Clavierstücke von mir hier spielte, zahlte H. Gutmann aus eigener Tasche sogar 15Fl Tantièmen (Novitätentantième), ohne nur ein Wort d’Albert oder mir zu sagen. Ich erfuhr davon nach 2 Jahren in Gegenwart [in left margin: Prf.] Beckers u. Dr. Rottenberg’s aus Frankfurt; Gutmann war aber nicht zu bewegen, sich das Geld von d’Albert oder mir retourniren zu lassen. Dies also nur eventuell.
Nächstens kommt aber ganz grosses, vielleicht gelingt es mir dann damit, mich bekannter zu machen.
Tausend Grüsse
von Ihrem Sie verehrenden
[ sign’d: ] H Schenker
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© Transcription Kevin Karnes, 2006