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Halm: Heinrich Schenker : 10-1-17

August Halm, “Heinrich Schenker,” Die Freie Schulgemeinde October 1, 1917, pp.11–15

HEINRICH SCHENKER
Von A. HALM

Die Technik eines Werkes ist
vergleichbar der Gesundheit eines
Körpers (aus dem Vorwort des
I. Bandes: „Kontrapunkt“ von
H. Schenker)

Es ist von Freunden meines Schaffens schon öfters ausgesprochen worden, daß mein mündliches und schriftliches Lehren die musikalische Kritik erst wirklich begründet habe. Nun, es gilt jetzt, zum mindesten, diesen, manchen vielleicht liebgewordenen Gedanken nachzuprüfen, und vielleicht, ihn zu verabschieden; ich wenigstens will das letztere, und zwar mit ungetrübter Freudigkeit tun. Denn Schenker hat jedenfalls einmal das zeitliche Vorrecht, vermutlich aber außerdem das sachliche. Seine 1906 und 1910 bei {12} Cotta erschienenen Bücher: Neue musikalische Theorien und Phantasien (I. Band Harmonielehre, II. Band Kontrapunkt, dem nächstens ein weiterer folgen soll) zeigen mir bei flüchtigem Einblick eine umfangreiche, zu einem System erwachsene Arbeit, die aus einer ursprünglichen und starken musikalischen Schau heraus entstanden ist, wie ich sie sonst in keinen Lehrbüchern verspüre. Damit sage ich schon, daß Schenker größere und stärkere theoretische Zusammenhänge geschaffen hat als ich. Zugleich begründe ich damit, daß ich diese Bücher, die mir erst seit kurzem zur Besprechung vorliegen, hier schon erwähne, noch ehe ich sie durcharbeiten kann. Dazu werde ich nämlich bei meinen sonstigen Aufgaben längere Zeit brauchen, und bis dahin will ich nicht damit warten, auf sie hunzuweisen. Wie weit sie dem Nichtmusiker zugänglich sind, kann ich noch nicht beurteilen, und so muß ich fast bedauern, daß die Beethoven-Ausgabe Schenkers, von der ich hier hauptsächlich berichten will, sich nicht restlos dem erschließt, der die Bücher, vor allem das erste, nicht einigermaßen kennt. Trotzdem empfehle ich diese Ausgabe mit all dem Nachdruck, den man meinen Worten überhaupt zuerkennen will. Allen Ernstes wünschte ich sie in der Hand jedes musikbeflissenen Menschen oder Kreises. Zwar war ich auch hier im Zweifel darüber, ob Schenker dem Nichtmusiker nicht zu viel Aufwand an Zeit zumutet. Aber schließlich mag jeder sich aussuchen, was er darin studieren kann; er wird von der Analyse auch schon eines einzelnen Satzes ein Bild davon bekommen, wie tief der Verfasser in die Fragen des meisterlichen Schaffens einführt. Und zum Glück kam in meine Zweifel hinein der Brief eines Musikfreundes, der mir schreibt: „Ich kam erst nach Beginn der Ferien dazu – man muß schon wirklich Zeit dafür haben – und bin einfach hängen geblieben. Denn da hat man wirklich das beglückende Gefühl, daß man altbekannten Meisterwerken näher kommt, sie überhaupt erst recht kennen lernt.“ Ich möchte aber abgesehen von dieser Frage die Bitte äußern, wenn irgend möglich, diese Ausgaben anzuschaffen und dadurch solche Art von Arbeit zu unterstützen: Denn gewiß haben wir von des Verfassers außerordentlich, ja möglicherweise beispiellos gründlichen Kenntnissen noch höchst Wichtiges zu erwarten, und ein Mißerfolg dieser Sendboten einer besseren Zeit läge schwer auf unserem, der Zeitgenossen, Gewissen.

Vorerst sind uns Beethovens letzte fünf Klaviersonaten angekündigt; davon die letzten drei (op. 109, 110, 111) beschert1; jede einzelne in einem besonderen Heft, das zuerst den Notentext, sodann eine Einführung, endlich einen Abschnitt: „Literatur“ bringt, in dem sich Schenker mit den bekannten Hermeneuten auseinandersetzt, oft auch nur Proben ihrer Kunst sehen läßt. Beginnen wir gleich hiermit, um die Widerstände zu erledigen, die sich der Verfasser da etwa selbst bereiten könnte. Ich meine nicht den Haß der {13} von ihm Angegriffenen, sondern die Unlust derer, die, obwohl sie mit ihm die journalistische Durchseuchung der Musikschriftstellerei verwünschen, dennoch ungern deren Dokumente in demselben Heft mit dem teuren Vermächtnis des Meisters beherbergt wissen, trotz der Freude, die ihnen die oft prachtvoll scharfe und stramme Art des Kampfes gegen einen Unfug bereiten mag, den ich einmal als die Not der Tonkunst bezeichnet habe2. Manche werden überdies das Maß erschritten finden, was den Umfang der Abwehr betrifft, und ich füge hinzu, daß man sogar in einzelnen Fällen den Verfasser sich richtig in Allotria verirren sehen kann (S. 83 in dem Heft der C-moll Sonate, Fußnote). Nehmen wir das mit in Kauf, und bedenken wir, daß wir in einer Zwischenzeit leben, in der erst einige Wenige verschüttete Lebensquellen befreien. Rechten wir da nicht um einzelnes mit ihnen, wenn sie über die durch ihre Empörung geweckten Assoziationen nicht stets alle Herrschaft behalten; zumal nicht mit solchen, die, wie Schenker, nicht aus persönlicher Liebhaberei Polemik treiben, sondern eben durch die Notlage sich auch zu solchem Dienst notgedrungen bestimmen lassen.

Als einen der wahren Nothelfer zeigt sich Schenker gewiß durch sein positives Tun, das als doppeltes erscheint, aber einem und demselben Wollen und auch Erkennen entquillt. Das eine ist seine Wiedergabe des Notentextes. Hier entdeckt er uns einen Notstand, von dem viele nichts, von dessen großer Bitterkeit aber wohl überhaupt kaum jemand sonst etwas ahnte. Nicht nur erfahren wir von vereinzelten falschen Lesarten, d. i. Notensünden samt den, für jeden Kundigen ohnehin wahrscheinlichen, Ungenauigkeiten der Dynamik; sondern wir bemerken auch, wie Beethovens Schreibart, d. i. seine fürs Auge des Spielers und zur Leitung seiner Auffassung wohl berechnete graphische Darstellung, die Wahl der Auf- und Abstriche, die Benützung der verbindenden Balken u. ä., teils der gewohnheitsmäßigen Setzer- und Stechermanier, teils einem eingebildeten Besserwissen der Herausgeber zum Opfer fiel, und dabei hält sich unser Erschrecken über die Tragweite solcher Zerstörungsarbeit und das Staunen über die uns bisher entzogenen Feinheiten, ja ich möchte manchmal sagen Schönheiten auch der äußerlichen Notierung die Wage. Also allein schon der Notentext, den Schenker, all vorhandenen Grundlagen, vor allem natürlich die noch erhaltenen Manuskripte, sodann von Beethoven selbst durchgesehene Kopien und Drucke aufs neue durcharbeitend, uns wieder erobert hat, rechtfertigte unsere Bitte, diese Ausgaben anzuschaffen. Zu großem Dank stimmt es uns ferner, daß sie aus Beethovens Skizzen Wichtiges mitteilen und uns das Werden der musikalischen Gestalt vor Augen führen. Dies geschieht in Schenkers Analysen, die er mit beherzigenswerten Vorschlägen für den Vortrag in der dem Notentext folgenden „Einführung“ vereinigt.

{14} Hier äußert sich ein Fleiß, der bei einem derartig überlegen geistigen Menschen, als den sich Schenker auf Schritt und Tritt erweist, nur durch völlige Besessenheit von einer Idee und der durch sie gestellten Aufgabe begriffen werden darf. Diese unverdrossen geleistete Kleinarbeit hat nichts von Subalternität. Daß sie manchem auf den ersten Blick maßlos erscheint, vermute ich, ja ich halte es für wahrscheinlich, daß auch das endgültige Urteil darin zu viel getan sieht. Aber das spricht nicht gegen das treue Werk: erinnern wir uns an Nietzsches Wort, ein Prinzip müsse zunächst einmal versuchsweise möglichst weit durchgeführt werden. Wer ein solches eben wirklich als eine treibende Kraft in sich fühlt, kann die Grenzen nicht so abmessen wie der spätere Betrachter, wird aber immerhin dem betrachtenden Neuling gegenüber doch noch mehr Aussicht haben, das Rechte zu treffen. Und in der Lage des Neulings dürften sich ihm gegenüber die allermeisten beruflich und nichtberuflich Musiktreibenden befinden, denn ein solches Eindringen war vor ihm wohl kaum jemals da. So erfuhr ich so viele überraschende Aufklärung im einzelnen, daß ich mir über ein Zuviel des Fragens und Deutens jetzt noch kein Urteil zutrauen will. Genau durchgearbeitet habe ich nur die Erläuterungen zu der letzten Sonate. Aber auch hier wollte ich nicht länger warten, da das eine Werk schon ein deutliches Bild der Art gibt und ein großes, seltenes Vertrauen in sie erweckt.

Nach all dem wird mancher Leser erwarten, etwas über mein Verhältnis zu Schenker zu hören. Daß ich in der Grundgesinnung mit ihm übereinstimme, ist ja ohne weiteres aus dem Gesagten, ja selbst allein aus dem vorangestellten Motto, zu erschließen. Im Denken finde ich ihn im ganzen mir gegensätzlich. Nicht daß ich diese und jene besondere abweichende Meinung, etwa die über den Nonenakkord, besonders wichtig nähme. Der Hauptgegensatz besteht in seiner ausgeprägten Geniegläubigkeit. Aber so wie umgekehrt mein Verdacht gegen den allergrößten Teil der bis jetzt geleisteten musikalischen Arbeit mich zu Erkenntnissen führte, die auch einem Anders-Fühlenden höchst wichtig sein dürfen, so erweist sich auch die keineswegs blinde sondern geradezu hellseherische Gläubigkeit Schenkers als wertvolles heuristisches Prinzip, als Antrieb, Entdeckungen zu machen, die durchaus nicht mit seinem Glauben selbst schon stehen und fallen. So stört es mich auch nicht, wenn er mir die glückliche Lösung eines Gestaltungsproblems über Gebühr zu bewundern scheint; ja, ich verstehe das um so eher, da er in des Meisters oft hartes Ringen um scheinbar oder wirklich Einfaches so tiefe Einsicht hat. Weiterhin könnte ich die Richtung seines Glaubens wohl kaum mitmachen. Er nennt mir zu viele Meister, die ich nur sehr bedingt als solche anerkenne; ich erwähne Brahms, Mendelssohn. Freilich kennt er sie besser als ich; aber ich meine, die Dankbarkeit für einzelnes Gelungene läßt ihn den Meisternamen zu häufig gebrauchen. Bruckner hingegen fand ich bei {15} ihm auffallend wenig berücksichtigt. Somit könnte es wohl dabei bleiben, daß ich doch mehr das reiche und prachtvolle Material, das er unserem Urteil zur Verfügung stellt, als sein Urteil selbst annehme. Vorerst aber, bis zu besserer Verarbeitung, lasse ich die genannten Unterschiede gern beiseite. Einen andern jedoch, der kaum minder tief greift und keinesfalls bloß Zufall oder Zugabe ist, muß ich noch andeuten, auch ehe ich ihm besser auf den Grund gehen kann. Das ist die stark esoterische Einstellung Schenkers, der nur zu Musikern, zu wissenden und könnenden, spricht und das Bild eines musikalischen Volks, ja auch nur Gefolges, wenigstens meinem Eindruck nach, nicht recht haben kann. Daß er sich hiedurch zur Einsamkeit verurteilt — denn er macht kein Hehl daraus, daß ihm auch berühmteste Musiker höchst wenig genügen —, tut zwar dem Großen und Edlen seiner Erscheinung meinen Abbruch. Doch wir wissen, daß wir einen anderen Willen nicht zur Musik, aber für die Musik haben.

Sei dem, wie ihm wolle: die Gabe dieses Forschers und Künstlers sei uns hoch willkommen; wäre ich in einer Freien Schulgemeinde, so forderte ich sie auf, ihretwegen ein Fest mit mir zu feiern; nicht, um die Sache damit zu erledigen, sondern um ein Geschenk zu begrüßen, das uns fortan zu unserem geistigen Aufbau dienen sollte.

NACHSCHRIFT. Auf Schenker aufmerksam gemacht hat mich ein Würtembergischer Seminarlehrer; also nicht ein Berufsmusiker, nicht eine Fachzeitschrift, nicht sein Verlag noch auch eine Musikalienhandlung.

COMMENTARY:
Format: journal article

FOOTNOTES:

1 Universal-Edition No. 3976–3978.

2 S. m. so betitelten Aufsatz in der Aprilnummer 1914 dieser Zeitschrift.

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