Handwritten letter from Cube to Schenker, dated October 4, 1934
Hamburg 13, Mittelweg 126, Ia/II
4.X.34.
Sehr verehrter Meister!
Es ist an der Zeit, wiedermal einen ausführlichen Rapport zu machen. Zuvorderst das Sachliche. Es gibt da einiges Neue und Wissenswerte. Einmal die Abschrift eines Briefes von Furtwängler:
Sehr verehrter Herr von Cube!
Infolge meiner vielen Reisen innerhalb der letzten Monate komme ich erst jetzt dazu, Ihren Brief vom 4. Mai zu beantworten.
Ob es wirklich wahr ist, dass Sie nur wegen Ihrer Anhängerschaft der Schenker’schen Lehre in Hamburg entlassen wurden, kann ich nicht beurteilen. Ich weiss nur, dass heute sehr viele Entlassungen aus persönlichen Motiven geschehen, d.h. weil irgendwie ein anderer die betreffende Stelle haben soll oder muss [cued from lower margin: note by Cube: Die Stelle hat heute der stellvertretende Leiter der Landesmusikerschaft Nordmark.] und dass die sachlichen Gründe, die bei solchen Gelegenheiten vorgebracht werden, häufig nur vorgeschoben sind.
Was Schenker und seine Lehre betrifft, so bin ich selbstverständlich jederzeit bereit, Ihnen und jedem, der es hören will, meine Ansicht mitzuteilen: dass es sich hier um eine Sache von höchsten Tragweite handelt, die, weil sie im Wesen der Natur und der grossen Meistwerke verankert ist, die Zukunft für sich hat, gegenüber so vielen anderen musikalischen Theorien, die um ihrer selbstwillen aus der Luft herausgegriffen wurden, und dass Schenker selber, obwohl rassenmäßig Jude, doch unbedingt als einer der eindringlichsten und grössten Verfechter und Verkünder deutschen Musikgenies und Musikgeistes betrachtet werden muss.
Ich bin soeben im Begriff, auf Urlaub zu gehen; vielleicht teilen Sie mir gelegentlich mit, wie sich Ihre Sache weiter entwickelt.
Mit den besten Empfehlungen bin ich
Ihr
Wilhelm Furtwängler.
Diesen Brief erhielt ich vor acht Wochen. Ich habe ihn sofort dem Leiter des einzigsten Institutes hier geschickt, bei dem ich mir Hoffnung {2} machen konnte, so etwas wie einen Wirkungskreis zu erhalten, da derselbe sowohl begierig schien, die pädagogischen Vorteile Ihrer Lehre zu erproben, als auch mir persönlich gut bekannt ist. Dieser Herr kam vor kurzem von den Ferien zurück und erklärte sich – von Furtwänglers Brief sichtlich beeindruckt – bereit, einen Halbjahreskursus für seine Seminaristen und Junglehrer vorläufig einzurichten. Es ist für die ganze Lage hier indessen durchaus bezeichnend, und trotz| aller Furtwänglerbriefe und Musikkammererklärungen charakteristisch, dass man mir in einem von mir zu Werbezwecken verfassten Schriftsatz Ihren Namen nebst denen von Halm und Kurth gestrichen hat! Dabei hatte ich Ihnen diese paradoxe Nachbarschaft nur aus dem Grunde formell zugemutet, um eine Wiederholung der Anwürfe aus jener Mentalität, die mir hier andauernd zu schaffen mach[t] zu vermeiden. Möglicherweise missverstehen Sie dies ebenso, wie die inkrimierte[sic] Stelle aus jener Kritik, aber dem Aussenstehenden ist manches unbegreiflich, das er nicht selbst erlebt. So kommt es beispielsweise vor, dass Händelsche Texte (Judas Maccabäus etc.) abgelehnt werden(!). Natürlich wären Halm und Kurth, wie sichs gehört, als Comparationes weggekommen; dies ist nun zwar nicht mehr nötig, aber ich bin nunmehr ganz auf mündliche Nennung Ihres Namens angewiesen. (So kann man sich nötigenfalls auf mich herausreden – man hat ja offiziell sich nicht mit Ihrer Lehre identifiziert!) Dass eines Tags Ihr Name ohne kleinliche Ängste gennant wird, dafür habe ich nun wiedermal ein vorläufiges halbes Jahr Zeit, mich einzusetzen! [8]
Unterdes bin ich auch nicht müssig gewesen, und habe dem Leiter der Landesmusikerschaft Ihren Essay “von der Sendung des deutschen Genies” zu lesen gegeben (es wird das erste sein, was er von Ihnen gelesen hat); neulich kam er zurück, nebst einem Brief des Herrn, dass er ihn “mit sehr grossem Interesse” gelesen habe. Eine weniger allgemein gehaltene Meinungsäusserung war allerdings vom Landesleiter schwerlich zu erhoffen. Immerhin bin ich froh, dass er Zeit hatte, gerade dieses zu lesen! Es hilft doch ein bisschen. Erfreulicher ist das letzte Kapitel eines Werkes “Geschichte der Musikästhetik in Umrissen” von Dr. Rudolf Schäfke, in dem – nicht ohne alle Aposthophierungen – sonst aber sehr ausführlich von Ihnen die Rede ist, und vor allem auch gesagt wird, dass die von Ihnen entwickelten Anschauungen die Zukunft für sich haben. Meine eigenen Arbeiten erstrecken sich – neben kümmerlichen Unterrichtsstunden – auf mein erwähltes Spezialgebiet, die Noëtik der abendländlichen Tonsÿsteme. Ich kann heute schon soviel sagen, dass sich sehr viel mehr abstrakte Brücken zur allwirkenden Natur in der Tonkunst finden, als wir gedacht haben. Die Natur {3} scheint dem begnadeten Ton-Seher auch dort die Feder zu führen, ich möchte beinahe sagen “gerade dort”, wo wir am meisten die “Kunst” bewundern! In Begriffe der Geometrie übersetzt, zeigt sich beispielsweise ein Gespinst von Gesetzmäßigkeiten, dass man nicht weiss, in welcher Erscheinungsform man Gottes Wunder am meisten bestaunen soll. Die sieben Diatonien einer Tonalität ergeben die Summe von 360º, ihre Quinten bereiche wandern um 180º, Dur und Moll (die 2te und 5te Diatonie) stehen senkrecht aufeinander, um 90º verschieden, daher ihre spiegelbildliche Ähnlichkeit, die “falschen Quinten” (jeweils Halbmesser der Tonalität) drehen und wenden sich mit jeder Tonikalisierung und Modulation, oder bloss mit dem Übergang in gleichnamige Diatonien, z.B. phrÿgisch, (No 6.) und leisten dem Ohr den stärksten Vorschub beim orientieren in einen neuen Quintengang etc. etc. etc. Stufengang und Urlinie wandern getrennte Pfade, gleichwohl durch Gesetze, wie man sie bei Polÿgonen findet, in Wechselbeziehung gebunden. Dass man ganz nebenbei Schönbergs 12 Tonzirkel schlagend ad absurdum führen kann, ist nur angemessen! Dass die Kirchentonarten (und nicht nur durch Mischung) noch leben ist ebenso beweisbar, wie die Tatsache, dass Dur und Moll eine wohlbedingte Vorzugsstellung einnehmen, – vielme[h]r einnehmen müssen. Und so geht es weiter durch hunderterlei Dinge, dass man mit Beobachten, Beschreiben und Rubrizieren nicht nachkommt. Ein paar Proben werde ich Ihnen nächstens doch mal schicken, obwohl ich noch nicht weiss, wo ich mit diesen Dingen am Ende rauskomme. Dabei halte ich wohlweislich fest: Köng ist das Ohr, und der Verstand Minister! Anders man sich verflixt leicht verbiestern kann, siehe Werker, Lorenz u.a. –
Nun das Menschliche, und das Allzumenschliche: Ich lege Ihnen einen Bildchen von Frau und Sohn ein – – ich nenne ihn “op. 1.”, und ich glaube, er ist das Beste, was ich überhaupt bis dato zustande gebracht habe. (Ich vergass im vorigen anzumerken: eine neue Sonate ist auch unter der Feder!) Der Kleine ist meines Lebens Freude, und Trost in allen Wiederwärtigkeiten. Unser Leben ist dürftig. Kaum genug zur Nahrung. Auch durch den neuen Kursus (pro Mann und Monat eine Mark fünfzig!) wird es kaum besser. Allmählich wird man aber gleichgültig und hart gegen derlei. Leider auch die Visage entsprechend grau und kantig. Das Allzumenschliche ist auch an mich herangekommen. Es gehen Gerüchte um in Hamburg! Ich weiss nicht, wer sie in Umlauf setzt; trappiere ich aber mal jemand, werde ich ihm eigenhändig das Rückgrat verbiegen! Man erzählt, ich hätte Herrn Violin finanziell {4} geschädigt, übervorteilt, was weiss ich – es geht so weit, dass erzählt wird, Herr Violin sei bei mir mit einer Summe Geldes “hängen geblieben”. Ich bin fest überzeugt, dass Herr Violin in solchem Falle sich an mich, oder gleich an die zuständige Schiedsstelle gewandt hätte, und würde es bedauern, wenn er stattdessen einigen “weiblichen Wesen” durch unvorsichtige Bemerkungen Gelegenheit gegeben hat, ein Gequatsche von gefährlich ehrabschneiderischen Ausmaßen anzuzetteln. Auch dazu würde ich mit Bismarck sagen: “Nescio quid mihi magis farcimentum esset!” Die Sache geht aber endlich so weit, dass diese weiblichen Wesen aus lauter “persönlicher Abneigung” gegen mich, (Gründe obengenannt) sich einen anderen Lehrer aus Berlin kommen lassen, dessen Auffasung von “Zusammenarbeit” wir hier schon einmal zu Lebzeiten des Schenker-Institutes in aufschlussreichen Weise kennen zu lernen, Gelegenheit hatten! Meine Gelassenheit im Ansehen dieser Dinge kann ich nur deshalb wahren, da nach meinen Informationen für den genannten Herrn in Hamburg nicht viel Aussicht besteht, seine Kreise beträchtlich zu erweitern. Ihnen aber erzähle ich von den Dingen, weil ich Grund habe anzunehmen, dass Ihre Beurteilung meiner Person sowohl, wie meiner Haltung zu Ihnen Einflüssen ausgesetzt war oder ist, die ich, nachdem ich für Sie iher in vorderster Linie stehe, und die Genickschläge einstecke (während andere den Nutzen davon ziehen), zu dulden auf keinen Fall bewillt bin. Ihnen sage ich daher im Vertrauen: Ich bin der Ansicht, dass Herr Violin, bei allen achtens- und liebenswerten Eigenschaften die unglückliche Anlage hat, sich von allen getreten zu fühlen, und sich demgemäß, aus diesem Komplex heraus, mit allen früher oder später anlegt, aber dabei der Ansicht ist, er wäre ungerecht behandelt worden. Es ist mir begreiflich, dass ein hoher Grad von Subjektivität auch seine Schattenseiten haben kann. Wie ich im Mai 31. in Hamburg war, stellte mir Herr Violin ein Kalkül auf, welches von den nachher vorgefundenen Zuständen dermaßen abweichend war, dass man hier die “Zeit” nicht mehr als Entschuldigung gelten lassen kann, sondern schon hart ins Gefild der Phantasie und Illusion versetzt ist. Darauf kann man aber keine Kompagnons verpflichten! Im kaufmännischen Leben wäre diese Sorte Optimismus nicht gut denkbar. Wenn man’s von der Seite betrachtet, so bin ich noch ganz anders “hängen geblieben” und hänge noch, in einer Stadt, in der ich nicht einen Menschen habe. Wenn man Gehälten ausrechnet, die nachher anfang[s] überhaupt nicht, später noch nicht mal zur Hälfte realisierbar sind, so {5} muss man sich nicht wundern, wenn die Geister, die man rief, Geld aus der eignen Tasche kosten, das nachträglich nicht mehr zurückzuwirtschaften geht.
Man kann darüber unmutig sein, man darf aber nicht derartige Drachensaaten aufgehen lassen, wie das hier der Fall war! Ich will keine Gegenrechnungen aufstellen. Alten Schlamm soll man nicht aufrühren. Ich hatte es nur so in der Nase, dass die Quatscherei ihre Wellen bis zu Ihnen geschlagen hatte. Da lag es mir daran, mich, trotz der Gefahr des “qui s’excuse, s’accuse”[,] mit Ihnen| zu verklaren!! —
So, jetzt wäre es halb zwei Uhr nachts. Zeit zum schlafen. Meine Frau und ich danken noch herzlichst für Ihre und Ihrer Gattin Glückwunsche!
Mit besten Grüssen bin ich
stets Ihr
[ sign’d: ] Cube.
P. S. Ist die zweite Url. Folge schon heraus? wann kommt der fr. Stz?
P. S. II. Einliegenden Zettel wollen Sie bitte Herrn Violin übermitteln, mit dem Bemerken, dass diesbezügliche Schritte zwecklos waren.
© Heirs of the Felix-Eberhard von Cube, published with kind permission.
© Transcription William Drabkin 2006.