Handwritten letter from Schenker to Halm, dated September 25, 1922]
[This edition conflates two texts, DLA 69.930/10 and OC 1/B 29–31, noting only the significant variants between the two. OC 1/B 29–31 is a fair copy of a presumed prior draft; however, Schenker copied one large section of the draft out of order, and had to make a second fair copy in the correct order.]
Lieber u. verehrter Herr Professor Halm!
Für Ihren l. Brief besten Dank. Inzwischen ist auch Ihr opus angelangt, für das ich nicht minder herzlich danke. Im 4. Heft des „Tonwille“ dürfte ich die erste Gelegenheit haben, Ihrer „Klavierübung“ zu gedenken (das 3. Heft ist schon im Druck) u. bis nur die Schwierigkeiten des Unterrichtsanfanges vorüber sind, will ich Ihr opus durchstudieren u. Rechenschaft legen. Und gleich beantworte ich Ihre letzte Frage nach dem Plan meiner Auswanderung. Durch Prof. Straube| brachte ich in Erfahrung, daß im Vorjahr die Universität Leipzig an meine Berufung dachte, schließlich aber davon Abstand genommen in Erwägung, daß mir ein rein künstlerischer Wirkungskreis besser zusagt, als der mehr historisch gerichtete innerhalb der Universität. Wie nett u. richtig eingefunden! Ob es Straube’s Bemühung gelingen wird, mich nach Leipzig oder Berlin zu bringen, weiß ich nicht. Einer Berufung auf die Hochschule Berlin| steht, glaube ich, meine ausgesprochene antidemokratische Gesinnung entgegen. „Handschellen für reaktionäre Burschen!“ dürfte das Musiker-Collegium mit Scheidemann| sagen.
Ihre Anerkennung meines Gesamtwirkens im Ganzen u. Einzelnen schätze ich hoch. Doch gestehe ich selbst, daß das Neue in II2 erst durch II3 (den nächsten Band) sich klar auswirken kann, so die Begriffe Knotenpunkt, Quartraum, und –Zug, 7 als Dchg. u. als Vorhalt, Durchgangsgesetze überhaupt u.s.w. Ich muß mich also in Geduld fassen u. alles Verkennen oder Misverstehen hin- {2} nehmen, wie es eben kommen mag. Denn nichts fällt dem Menschen so schwer, als der Anblick von Urgesetzen. Wer nicht eigene Kraft hat, zu ihnen vorzudringen, vermag auch nicht zu folgen, wenn ein Anderer ihm die Erscheinung in das Urgesetz auflöst; schon nur das Betrachten der Einzelerscheinung erschöpft seine ganze Kraft, geschweige daß er etwas erübrigte für das Erfassen eines Urgesetztes, das ihm ein fremdes Geistiges bleibt, obgleich es in der Erscheinung auch sichtbaren Niederschlag hat. Außerhalb der Kunst macht sich diese Unzulänglichkeit nicht minder geltend: auf den Gebieten der Kultur, Religion, Politik begegnen Sie ihr zu allen Zeiten; man scheitert schon an Einzelerscheinungen, entwickelt gleichwohl aber „Ideen,“ „Utopien,“ die im selben Maße falsch sein müssen!
Und da bin ich schon bei dem Kern dieses Briefes, den ich, die letzten freien Tage ausnützend, etwas weiter zu fassen mich entschloß. Ursprünglich hatte ich vor, das ganze Material, das ich auf dem Tische eigens aufgeschüttet habe, zu verwenden. Ich sah aber die Unmöglichkeit ein u. bescheide mich, den Windungen Ihres Briefes folgend, blos Bemerkungen zu machen.
[„Briand“]| Als ich vor vielen Jahren mit Schönberg, den ich oft sah u. der mich geradezu liebte, über Reger sprach, stieß ich auf unerklärlichen Widerstand. Nach 1½ Stunden müssigsten Hin- u. Herredens schöpfte ich Verdacht u. frug: “Lieber Schönberg, was kennen Sie eigentlich von Reger?“, Nichts, nicht eine Note,“ bekam ich zur Antwort. Da ließ ich meinen Unmut wilden Lauf . . . Nun, Schönberg bin ich nicht, – sowie ich z.B. über Bruckner, Strauss spreche, nachdem ich ihre sämtlichen Werke nicht nur erworben, sondern auch genau gelesen u. in Konzerten oft gehört habe, so treibe ich es auf jedem {3} anderen Gebiet. Nicht eher spreche ich, bis ich nicht, wie in der Musik, gleichsam die Urgesetze mir vergegenwärtigt habe. Obgleich vollständig mittellos, von der Hand in den Mund lebend, habe ich in allen Kriegsjahren nicht weniger als 9 Tageszeitungen aller Richtungen (des Auslands u. Inlands) ins Haus bezogen, – wissen Sie noch einen auf dem Erdenrund, der ein solches Geldopfer zu bringen Mut gehabt hätte? Dabei habe ich selbst den reichsten Schülern gegenüber auf jede angebotene Honorar-Erhöhung grundsätzlich verzichtet, um mich nicht mit einem Mehr-Geld zu beschmutzen, das mir, trotz zunehmender Teuerung, ein Verbrechen an den Kämpfern draußen erschien. Über dem Vorrat, den ich in so vielen Blättern auftrat–dazu verschlang ich außer Hause Alles nur irgendwie Erreichbare– verlor ich 30 Pfund an Körpergewicht; ich litt unsäglich, ließ aber nicht ab, das Treiben der Demokraten, Sozialdemokraten, Nationalen, Pazifisten, Internationalisten in ihren Blättern zu verfolgen u. die wichtigsten Belege – aufzubewahren ! (Ich schätze sie auf viele, viele Tausend Stück.) Im weiteren Verlaufe hatte ich mir Urteil genug z.B. über unsere „Arbeiter.Ztg“ (= Berliner „Vorwärts“) gebildet, um sie wegen ihres (aus Unreife) eckeln Betragens aus dem Hause zu entfernen, beziehe aber noch heute, wo ich mit dem Leben entsetzlich ringe, 3 große Tagesblätter, aus Wien, Berlin u. Frankfurt, die verschiedener Richtung sind. Wie oft mußte ich schon den Verlag ersuchen, mir bei den Quartalsbestellungen mir mit den unerschwinglichen MK auszuhelfen, u. lasse von dieser Gewissenhaftigkeit doch nicht ab! Daß es eine innere, keine blos äußerliche ist, nehmen Sie nach alldem wohl selbst an. {4}
„Harden“]| In jüngsten Jahren noch, da ich Mutter, Schwester, jüngeren Brüder (den heute so undankbaren Milliardär) u. Nichte von Klavierstunden zu erhalten hatte, nahm ich den Antrag eines Wiener Harden-Freundes, für ihn etwas zu schreiben, gern an. Es waren das überhaupt meine ersten Versuche u. ich danke es H., daß er Mut hatte, sie zu veröffentlichen, denn die vielfachen Auswirkungen der Mitarbeit helfen immerhin eine bessere Zukunft vorbereiten. Er bezeigte mir, ohne daß er etwas verstanden hätte, unbegrenztes, ja rührendes Vertrauen vom ersten Augenblick an, doch konnte ich diese Liebe nicht erwidern. Ich sah bald, daß er keine Frage von Hand aus selbstständig beherrscht, folglich verurteilt ist, nach sachfremden unwesentlichen, sogar fremden Gesichtspunkten zu urteilen. „Anders als die Anderen“ mußte unbewußt ihm Loh[n]ung werden, der er bis zur Stunde folgt. Und doch war er gerade dadurch genau wie die Anderen, die ihre Unselbstständigkeit (= Unzulänglichkeit) in derselben Art vor sich selbst verbergen. Er beschimpfte die Zeitungsherausgeber, die „Kulis“ als wäre ein Tagblatt ohne irdischen Schmutz überhaupt möglich – unser Karl Kraus ist genau so kindisch unreif –, hielt es aber selbst ganz anders. Auch mir gegenüber scheute er sich nicht, öfter Beeinflussungen zu wagen, je nachdem er selbst beeinflußt worden. (Ich gab aber nicht nach.) Ein pathetischerer H. Bahr| ist er blos allezeit gewesen, ist mit Allem gegangen, was mir nach Minorität roch u.s.w. besonders abstoßend wirkte auf mich seine „Monarchen-Erziehung,“ die ihm Kerker eintrug. Nicht nur fand ich den Aufsatz flegelhaft, sondern vor Allem zu billig. Hätte er nur, wie schon dazumal ich selbst, in das Leben der historischen Reichen Einblick gehabt (aus nächster Nähe), es wäre ihm nicht eingefallen, daß mehr „Erziehung“ zu suchen, als sich der Sachlage nach überhaupt erzielen läßt. Mit demselben Rechte müßte er die Masaryk[35] Harding, Ebert, Wilson, u.s.w. beanstanden. Der Beruf, der Umfang der Geschäfte ziehen {5} da Grenzen, die nur in den seltensten Fällen einer zu überschreiten die Kraft hat. Nicht einmal über die eigenen Güter, die irdischen, hat so einer Überblick: ein majordomus muß täglich Vortrag halten, der den Besitzer nur langweilt. Auf „Vorträge“ ist jeder Präsident angewiesen, u. genau so ist es bei einem Kaiser, der nicht Alles zu wissen, Alles zu können braucht. Ein arger Misbrauch H’s – wieder eine Mantelhängerei – war es, der mich veranlaßt hat, ihm – verzeihen Sie das Wort – einer Fußtritt zu geben, trotz aller Not. Dazu kam noch die Einsicht, daß ich mich den Lesern gegenüber nicht so verständlich machen konnte, als ich auf andere Art es erhoffen dürfte. Schon damals habe ich meine Theorien entworfen u. es drängte mich übermächtig, sie auszugestalten.
„Volk–Regierung“]| Es sei Ihnen verraten, daß ich für die Zeit nach dem Erscheinen des IV. Bd. u. der „Formenlehre“ ein Werkchen plane, etwa „Zukunft der Menschheit“ betitelt: Bis dahin wird das vollständige Werk der „Th. u. Ph.“ den Beweis erbracht haben, daß es geradezu Pflicht eines Menschen ist, der Einblick in Urgesetze hat, wenn auch nur solche musikalischer Art, sich zu dieser Frage zu äußern: daß er dazu mehr Befugnis hat, als die vielen Minister, Parteiler, Philosophen u. Dichter, die den Anblick von Urgesetzen ein genossen, steht fest. Könnten Sie die ungeheuren Zurüstungen sehen, die schon seit Langem gemacht sind, Sie hielten es für Blendwerk! Wer wie ich die Synthese eines Geniewerkes erfüllt u. in Worte gefaßt, darf sich an jene Aufgabe mit mehr Recht wagen, als die Rollands, Barbusses, Bernstein, Kautsky, Marx, Engels, Wells| u.s.w.
Aus Hochschätzung für Sie, den ich als einen Mann ohne Tadel kenne, will ich hier einige Bekenntnisse ablegen, die, ich kann sagen, seit Kindheitstagen mit mir gehen. Ich will sie nicht in der Sprache ausdrücken, die heute allen Unklaren eigen ist, sondern so natürlich als möglich, das Wort im heiligsten Sinne der Natur verstanden. {6}
„Antropomorphes,“ „Antropozentrisches“ Denken ist mir eine Beleidigung der Natur, ein Größenwahn des Menschen. „Heiligen Frieden in der Natur“ sieht der Mensch, wenn nur er selbst die Arbeitsstätte verlassen u. z.B. einen Ausflug macht: die Natur raste mit ihm, meint er. Auch Dichter fühlen so, u. doch finde ich es dichterischer, mich bescheiden vor dem Kampf zu neigen, der in der Natur auch während meiner Feierstunden rast. Auch ich ihr Kampfobjekt, füge ich mich fürchtig u. dankbar, wie ein neuer Adam, ein: so fühle ich mich glücklich.
Was Menschen sonst an jeder Jugend als „Entwicklung,“ „Fortschritt“ wahrzunehmen glauben, halte ich blos für Reflex körperlichen Wachstums: lassen Sie dieses ein reifes Stadium erreichen, u. schon auch ist der Durchschnittsmensch da, mit seiner unüberschreitbaren Grenze. Daß die Jugend selbst sich im „Fortschritt“ nährt, ist auf die gleiche Täuschung hinzuführen, die der Reisende hat, wenn er die Eisenbahn benützt: Die Landschaft steht, u. so steht auch der Kopf, während das körperliche Wachstum ein geistiges vorläuft.
Der Mensch duftet nur aus dem Gehirn, stinkt aber aus dem Gedärm. Das ist Wille der Natur, der das Genie wie der Trottel beugt. So auch ist es in der Gesammtmenschheit : sie duftet aus Einzelnen, die ihr Gehirn u. Auge sind, u. stinkt aus der Masse. Das Schauerliche von heute ist, daß sich der Hintere herausgenommen hat, nicht mehr der Hintere sein zu wollen, als hinge es von seinem Trotz ab, u. nicht vielmehr davon, ob die Natur Gehirnnerven auch in den Hinteren einbaut, was sie dem Menschen zu gefallen doch niemals tun wird. (Sie hat ihre Gründe.) In Wiener Mundart ist: „ich bin nicht zu die Bücher“ stolzer Ausdruck eines Menschen, der sich den Gegenständen der Welt zuwendet, Bewußtsein u. Denken weder er- noch verträgt. Die selbe gilt von {7} Völkern: durch geographischer Lage, Klima, Geburt überhaupt sind manche „zu die Bücher,“ manche nicht.
Ein schauerliches Urgesetz ist: der Mensch fühlt sich wohl, wenn er sich sein Gedärm erleichtert, hält sich aber die Nase zu u. schimpft, wenn sich ein Anderer das seine erleichtert! Die Prolongationen dieses Urgesetztes sind Inhalt aller Menschenkämpfe: Ein Diebsvolk – oder DiebsMensch, fühlt sich durch den Diebstahl erleichtert, schreit aber: „Unrecht, Gewalt,“ wenn ein Anderer stiehlt. Jegliches Unrecht, will Jeder selbst begehen – Gedärmerleichterung –, aber empfindlich bleibt er, wo er leiden soll „Ich sehe immer nur andern u. dich nur, wie du erscheinen willst, aber nicht wie du bist“ (Bonsels|), ist dennoch eine solche Art: dem sich ein Lastergestank Erleichternden noch damit hineinzuhelfen, daß man Erleichterung für Gehirnduft auslege, ist auch vergeblich. Gewissen, Reue, Einsicht hören auf, wo ein solcher Naturvolk vorliegt. Man kommt um das Naturgesetz nicht herum, wie immer man sich dazu stelle. In diesem Zusammenhange sei Ihres Briand nun noch einmal gedacht: Nach Gedärmerleichterung ist auch der Franzose „vernünftig.“ (Nebenbei Br. ist ungebildet, daß er in offener Parlamentssitzung vom Konzil „de trente“ sprach (Trient!?!), sprach, er [der Katholik!] der heute vielgenannte Alain spricht zuerst – Gedärmerleichterung – von „einer Republik von jenseits des Rheins“, hernach ist er wirklich trefflich. (Hat so etwas aber Wert?) Voltaire schiebt in Getreide – Gedärmerleichterung –, ist im Übrigen “vernünftig” (nach Goethe, “ohne Tiefe”). Anatole France, Loti, Claudel, Rolland, Barrés| sind alle sehr „vernünftig“, aber nach| Gedärmerleichterung. Den Nobel-Preis auf der Hand schwört Anatole France seine frühere Religion, den Kommunismus, ab. Claudel ergeht sich in Mysterien, aber seine – Kriegshetze ? Und Loti’s Haß ? Der Vizepräsident der Franz-Lig[u]e f. Menschenrechte, Prof. Basch (Paris), erzählt soeben in Berlin u. Wien, {8} die deutschen hätten binnen einem Jahrhundert 3 mal die Franzosen überfallen, so den Bonaparte (!!), Napol. III, u. die Republik. Was heißt das? Der überfallende Franzose fühlt sich immer überfallen, der Überfall als Gedärmerleichterung tut ihm wohl, u. er begreift nicht, weshalb der Deutsche die Nase zuhält, oder besser zuhalten müßte.
Seitdem wir von der Natur abgewichen, nicht mehr auf Zweigen hüpfen u. von Gras oder dgl. uns nähren, dafür aber in die Künstlichkeit eines Staates eingegangen, ist es ausgeschlossen, daß die Menschheit mit ihr ja fertig wird. Ginge es von einem Mozart, Beethoven ab, einen Staat nach seinem Gefühl für Urgesetze zu – komponieren, dann gienge es, aber die Masse weiß nicht einmal, daß es um eine Künstlichkeit geht, die als solche Fälschungen braucht, geschweige daß sie bei ihrer Unbegabung Mittel fände, zumal heute, wo schon Neger erklären, sie wollten sich selbst regieren, weil sie es auch schon treffe (!?). Solange der Mensch den Größenwahn hat, Gott gar nach seinem Ebenbilde zu formen, ihn zu verleugnen, wenn er nicht zu gutem, bequemen [recte: bequemem] Leben verhilft (Religion geht durch Magen-Feiertage), nach der Unsterblichkeit verlangt, weil es ihm unerträglich ist, zu denken, er könnte mal sein Ende haben, u. was noch sonst an Erscheinungen von Größenwahn gibt, wieder den Weg zum Staat nicht finden, denn dieser heißt: Künstlichkeit, also Zwang u. Fälschung.
Dazu kommt, daß jeder Mensch irgendwie betrügen muß. Auch im Stoff liegt die Nötigung dazu. Die ehrenhafteste Großkaufleute haben mir versichert: „Im Geschäft betrüge ich, aber außerhalb des Geschäftes lüge ich nie.“ Eine Welt von Spinozas zu denken ist unerlaubt, aber schon 1 Wilson, unter Millionen Spinozas würde den Bund beschmutzen u. sprengen. Es geht nicht, weil die Natur es gar nicht so haben will. Sie hat dem menschlichen Körper dessen Organen {9} Fallen gestellt, an denen er früher oder später zugrunde geht, so aber auch dem Menschheitskörper.
Bin ich darum pessimistisch? Sicher nicht. Im Gegenteil. Ich liebe u. verehre den Willen der Natur bis zum Äußersten meiner eigenen Vernichtung. – Ich glaube nur in die Auslese der Natur, u. nicht an eine ihr auf demokratisch abzutrotzende. – Ich danke Gott, daß er meine hochlieben Eltern mit der Frommheit ausgestattet hat, 12 Kinder zu zeugen u. um sie alles Ungemach zu tragen. Wenn mein Vater aus Mangel an Jugend, dem Gedanken eines sehr berühmten Gelehrten, (den ich selbst gut kannte) eines Freundes von E. Mach, eines großen Entdeckers u. heilandsgütigen Menschen, gefolgt wäre, der von Voltaire u. Marx kommend forderte, der Stand sei auch berechtigt, Kinder zu töten, um der Lebenden willen, – ich wäre nicht am Leben, da ich eins der mittleren Kinder war, u. dafür bliebe ein Abhub, der das Leben gar nicht verdient. Wohin man nur mit einem Mitleid kommt, das doch wieder auf der anderen Seite zur eckelerregendsten Grausamkeit ausarten muß! (Wir wissen es ja heute schon alle, alle, daß das Proletariat kein Mitleid kennt, sohin auch das Mitleid nicht verdient, das ihm gestern entgegengebracht wurde. Gedärmerleichterungsfrage.) – Und als Unsterblichkeit der Sache fasse ich mein einmaliges Leben auf. Nicht mit dem Ewigen um Zeit-Ewigkeit rettzuleben[?], fühle ich das Bedürfnis, ich fühle mich auch schon in der Spanne Zeit „unsterblich,“ als Teil des Ewigen, u. nicht anders als der Wurm, Vogel, Fisch, die ebenfalls seine Wunder sind.
Der Mensch ist so nicht schlecht, nicht gut, nur für die Künstliche Aufgabe unzulänglich, u. größenwahnsinnig vor Gott, Natur u. der Ewigkeit. Trotz Kopernikus gibt er sein antropozentrisches Denken nicht auf u. stolzirt darüber, wie über einer Tuberkulose. Er maßt sich an, der Natur ihre Hauptwaffe, {10} die Vernichtung, zu entreißen, oder wenn sie schon sein muß, denkt er sie lieber dem Andern als sich zu. Das Letztere muß auch bleiben : er oder ich! (Er und ich ist schon Synthese, u. diese wird schon zu zweit nicht – Ehe, Freundschaft –, geschweige zu Millionen erreicht.) Verteidige ich aber mit meinem Leben auch die Kunst, so habe ich alle Ursache, nicht zu weichen einem, der eine solche Aufgabe nicht hat.
Zwischen Volk u. Regierung vermag ich nicht zu unterscheiden. Ist Ebert nicht mehr „Volk“, seit er präsidiert, u. wird er wieder „Volk“, wenn er vom Amt zurückschritt? Und in einem Staat, in dem Alle mitregieren, als Wähler, Parlamentarier, Beamter u.s.w., gebe es nur eine Regierung? Wo ist denn aber dies “Volk“ letztere? Hier liegt eine Irrtum vor: jede Regierung enttäuscht, Tyrann, Oligarch, Kaiser, Präsident – muß doch jede Regierung auch betrügen, wie der Einzelmensch, es liegt in der Natur der Dinge so! – daher sucht man den Glückseligkeitswahn zunächst durch Entgegensetzung von „Volk“ u. „Regierung“ noch irgendwie zu retten.
„Französisches“] Daher traue ich auch in Frankreich Volk u. Regierung nicht. Das Volk selbst ist kleinlich, roh, nicht allzu begabt (weil maßlos eitel). Die Tat ist dort immer eine – Gedärmerleichterung, nur huscht ihr Wort dort schöner darüber weg. Sogar „die Weise aus Frankfurt“ – so meine ich die Frkf. Ztg im Gegensatz zu Schopenhauer – weiß schon ihren „ausgesprochenen klein-bürgerlichen Geist, der im kleinen Rentner seine vollendete Verkürzerung gefunden hat.“ Ein solches humus taugt nicht viel, u. ich lobe mir die deutsche Arbeitsfreude: der Fleiß des deutschen Kaufmanns, Arbeiters sogar ist derselbe, der im deutschen Genie sich als „Schöpfung“ bewährt! Die Westvölker treiben Handel, als daß sie arbeiteten; sie verspotten den d. Fleiß, der etwa Genie-Vorzeichen ist. Nicht allein Revision des {11} Versailles „Vertrags“, eine Revision der Westvölker überhaupt täte not. Auch die Weltgeschichte ist falsch geschrieben, nicht nur die Musikgeschichte. – Der berühmte Philolog H. Schuchardt hat gemeint: „Was hat es uns u. den andern genützt, daß wir in ihrer Sprache zu ihnen geredet haben? Damit sie uns kennen lernen, müssen sie unsere Sprache erlernen.“ Dazu ist aber der Frankreicher nicht fähig u. daher wird eine Verständigung niemals gelungen, höchstens daß der deutsche zu jeder Gedärmerleichterung (um Diebstahl des Rheins, Oberschlesiens u.s.w.) entzückt die Nase darbietet! Auch Wollten wir auch mit unserer besseren Art ein Beispiel geben, es hülfe nichts, denn der Franzose fühlt sich im Rechten (s.o. Basch) – das ist ja zugleich der tragischer Sinn der vielgenannten Gedärmerleichterung.
„höhere Ebene“] G. Mahler schwärmte für so etwas (der er nämlich selbst der „Star,“ die Spitze war: auch Lenin schwärmt aus demselben Grund für die Ebene). U. doch, hätte ich nicht z.B. d'Andrade als „Don Juan“ gehört, niemals hätte ich, trotz Mahler, eine solche Mozart-Vollendung für überhaupt ausführbar gehalten! Und wie der Dramatiker nur auf die höchsten Punkte eines Menschenlebens, der Maler auf solche der Natur achtet, so achte auch ich auf Allem auf die höchsten Möglichkeiten, die allein dem Stand der Kunst anzeigen. Und wenn von Frankreich die „moralische Führung“ (Cailleux|) beansprucht wird, von der geistigen nicht zu sprechen, bei so viel Ebene, wüßte ich nicht, weshalb Deutschland bei solchen Spitzen unter die Französische Ebene sich begeben soll. H. Basch stellt entgegen: „Rabelais, Descartes, Molière, Racine, Voltaire, V. Hugo, Pasteur, Bergson, / u. Kant, Hegel, Goethe, Schiller, Mozart, Beethoven, Nietzsche u. Einstein,“ wahrlich man müsste ein O.E. Curtius| oder Hofmüller| sein (die vor Goethe die Schätzung, aber niemals seine Distanzierung des Franzosentums anzunehmen befahigt sind), seiner {12} muß man sein, um nicht zu begreifen sehen, was man förmlich auf die Wege legen kann., Übrigens, dächte man auch so wie die deutschen Demokraten, dort die „Originalen“ hier (bei den Deutschen) blos die „Vertiefer“ – feine Geniekenner was? –, was nützte auch das? Wie oft denn soll Deutschland Frankreichs „Überlegenheit“ bezahlen, mit Lande, Menschen? Ist nicht schon genug Honorar entrichtet worden? (Werde ich für eine Stunde denn 2-, 3-, 4mal bezahlt?) Wie lange, wie oft noch soll dieses Verhältnis andauern, wiederkehren?
Er oder ich will die Natur! (Der Franzose fühlt’s, der Deutsche nicht.) International? Übernational? Als Lösung? Gäbs wieder eine allgemeine Bindung, wie einstmals das Schriftentum, das Lateintum, dann gienge es eine Weile vielleicht. Zu Gunsten der Idee ganz auslöschte: D. wäre dann als Nation einfach nicht mehr da, aber darum nicht schon das Internationale da!
Ich entsinne mich eines Bildchens in den „fliegenden Blättern“: der Tierfreund. Stand da ein grundgutes Männchen u. geringster freudig über einen — Flohbesuch auf dem Rücken. So ein Tierfreund war u. bleibt Deutschland: es grinst freudig über den Besuch von Wanzen, Flöhen u.s.w.; als wäre Gottes Wort (s. T.I 1.28) “und füllet die Erde, u. machet sie euch untertan“ an diese Tierchen, u. nicht an die Menschen ergangen. (Ein 70-Millionen Volk so feig, so erbärmlich !).–
So brauche ich nichts zurückzunehmen, wie es heute die Demokraten, Pazifisten, die auf dem Kongreß für Sozialpolitik, ja sogar die Unabhängigen tun müssen.
Ich lege Ihnen 3 Aufsätzte von Nitti| bei, der kein „Germaniak,“ kein „Alldeutscher,“ „Völkischer“ ist; sie dürften Ihnen sonst kaum zugänglich sein. Und daß ich Sie damit aus der Ruhe scheuche, wollen Sie mir zugute halten: ich meine es gut, auch ohne Sie bekehren zu wollen.
Nun beste Grüße u. Wünsche für Herbst u. Winter
Ir
[ sign’d: ] H Schenker
25. Sept 1922
© In the public domain.
© Transcription Ian Bent & Lee Rothfarb, 2006.