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December 29, 1916

OC 1/B9 — vsn 1 : 12-29-16

Handwritten draft letter from Schenker to Halm: version 1, in Jeanette Schenker’s hand, dated [December 29, 1916]]

In Beantwortung Ihres freundlichen Schreibens,1 für das ich Ihnen herzlichen Dank sage, beeile ich mich zu bestätigen, daß ich Ihre Arbeiten schon seit langem kenne u. deren Schicksal in der Presse auch aufmerksam verfolgt habe. Auch stimme ich Ihnen vollkommen bei, wenn Sie meinen, daß was uns einigt vorläufig wichtiger zu sein habe, als dasjenige was uns trennt; im großen u. ganzen werden Sie indessen wohl bemerkt haben, daß ich im Grunde nur sehr unfreiwillig wider Gegner ins Feld ziehe u. es nur dort tue, wo der Gegner im spezifisch gefärbter Bazillus des Irrtums ist oder gar selbst zuerst aggressiv geworden (darunter verstehe ich natürlich auch das Verschweigen) meine Waffe herausfordert.

Meine Tendenz geht dahin, im seit 2–300 Jahren so übermächtig angewachsenen Kreise der Kunstbeflissenen wirkliche Könner u. Kenner der Stimmführung u. Harmonie wenn nicht in demselben, so doch zumindest in einem ähnlichen Verhältnis hervorzutreiben u. zu erzielen, als es ihrer vor so vielen Jahrhunderten innerhalb des kleineren Kreises immerhin noch gegeben hat. Nur in dem leidigen Mißverhältnis zwischen Wissenden u. Unwissenden erblicke ich die Ursache der gegenwärtigen Zerrüttung, der Uebermacht unserer Gegner, des ewigen Geplappers von Fortschritt u. dgl. m[ehr]. So kommt es denn freilich in letztem Grunde nur eben darauf an, wessen Begriffe von Stimmführung u. Harmonie die richtigen sind, das heißt mehr im Einklang mit den Werken unserer großen Meister, die meinen oder die der Gegner. In dem der Druckerei bald zu übergebenden II. Bd. des Kontrapunktes, der sich hauptsächlich mit dem freien Satz2 beschäftigt, glaube ich den Nachweis dafür erbracht zu haben, daß auch die Töne, genau so wie z. B. die Sterne am Firmament, nur wenige Urgesetze haben, die desto unverändlicher im Kerne selbst bleiben, je veränderlicher, ja in ihrer Veränderlichkeit verwirrend[,] sie sich in den einzelnen Erscheinungen objektivieren. Niemals, davon bin mindestens ich selbst überzeugt, kann je eine neue Generation, eine neue Jugend den wenigen Urgesetzen auch nur noch eines hinzufügen. Und es wird der Welt das überaus beglückende u. dankbare Geschäft harren, sich mit der unendlichen Veränderlichkeit zu bescheiden u. in ihr sicher zu wirken, statt nach Regionen zu gelangen in denen auch nichts uns wahrnehmbar ist. Nach all dem begreifen Sie, daß ich dem mir angekundigten Aufsatz mit wirklichem Interesse entgegensehe.

Was Ihren Plan anlangt, die Klavierübung3 eventuell bei der “U. E.“ hier anzubringen, darf ich Ihnen nicht verhehlen, daß ich selbst mindestens vorläufig – wie das ja so häufig verkommt – in einem etwas gespanntem Verhältnis zum Verleger stehe, so daß sogar meine Ausgabe in op. 101 u. 106 dadurch in Frage gestellt ist. Doch wäre – wie auch dies so häufig vorkommt – möglich, daß sich die Beziehung neuerdings bessert, was ich Ihnen dann selbstverständlich zur Mitteilung bringen werde, gerne bereit, Ihnen den Verleger gefügig zu machen.

[ in later hand, in red crayon: ] Halm, Dez. 1916?

© In public domain.
© Transcription Ian D. Bent, 2006

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July 8, 1917

DLA 69.930/1 : 7-8-17

Handwritten letter from Schenker to Halm, July 8, 1917

Seefeld i. Tirol, Pension Wetterstein
8. Juli 1917

Sehr geehrter Herr Professor!

Ihre frdl. Zeilen1 erreichten mich hier erst auf Umwegen über Wien. Desto kürzere Zeit dürfte aber meine Antwort beanspruchen, die ich postwendend abgehen lasse, u. die ja auch schon von Haus aus näheren Weg zu Ihnen hat.

Das II[.] Var. Heft B. bei Peters ist,2 soweit ich mich erinnere, nicht gerade das schlechteste Stück Ausgabe u. mag dem vermutlichen Original viel näher als die übrigen Stücke stehen. Die Var. dort gehören zu den wenigen [recte? weniger „berühmten“ u. da ersparen sich die „berühmten“ Herausgeber ihre Mühe, was den Stücken nur umsobesser bekommt. Bedenklich ist schon das I[.] Var. Heft mitgenommen, wo die Diab. u. Eroica-Var. Platz gefunden haben. Unter allen Umständen ziehe ich persönlich die Gesammt-Ausg.3 vor, die, wenn sie auch vor den tiefsten Angelegenheiten der Komposition u. Schreibart versagt, so doch sonst die allerwenigsten Zutaten u. Änderungen macht. Zumal in jener Var. möchte sich wohl zum größten Teile das Original mit dem Nachbild der G. A. decken, obgleich ich nichts weniger als dazu aufgelegt bin, ihre wunderbare Kunst zu unterschätzen, die doch noch immer nicht übertroffen wurde. Es würde mich interessieren, zu erfahren, auf welcher Var Ihre Wahl gefallen ist. Würden Sie denn dazu Finger- {2} sätze machen? Da fällt mir ein, welch lohnende, schöne Aufgabe es wäre, z. B. sämmtliche Stellen aus sämmtlichen Werken B’s in einem Heft zu vereinigen, die seine eigenen Fingersätze tragen u. daraus Schlüsse zu ziehen, die der Klaviertechnik unakademische Wege zu weisen vermöchten.

Ihre frdl. Besprechung meiner B.’Ausgaben4 erwarte ich mit größtem Interesse. Kürzlich bekam ich eine zu Gesicht im „Kunstwart,“ gez. von A Liebscher,5 der mir bei so viel freundlicher Anerkennung nichts mehr u. nichts weniger unterschob, als daß ich Bülow inferioren Instinkt vorwarf. Wie oft habe ich doch aber betont, daß ich es nur an Beethoven selbst geniessbar verstehe u. nicht an den Musikalischen sonst, u. welch gewaltigen Unterschied bedeutet das! Ja, aber darum, weil von einem Bülow zu Beeth. eine so übergroße Distanz ist, fordere ich, daß all die Übrigen nicht gar zu sehr hinter Bülow zurückbleiben mögen.

An Cotta [recte UE] schreibe ich gleichzeitig,6 daß er Ihnen unverzüglich ein Rezensionsex. zukommen lassen möge. Unbegreiflich ist es mir ja dahin, daß er Ihnen nicht schon selbst eines schickte. Der zweite Kontrap. Band wird bei Cotta erscheinen, nur bin ich noch mit der Feile beschäftigt. Schade, daß der Druck so lange dauert, Bd. I u. II1 haben ja 2 Jahre in Anspruch genommen. Doch ich habe Geduld. Sie bestens grüßend

Zeichne Ir sehr ergebener
[ sign’d: ] H Schenker

© In the public domain; reproduced here with kind permission of the heirs of August Halm.
© Transcription Lee Rothfarb, 2006.

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January 17, 1918

DLA 69.930/2 : 1-17-18

Handwritten letter from Schenker to Halm, dated January 17, 1918
[= draft OC 1/B25–28]

Sehr geehrter Herr Halm !

Erste Kenntnis von Ihrem mich betreffenden Aufsatz,1 der so überaus würdig u. charaktervoll gehalten, auch Sie selbst nicht minder wie mich ehrt, erhielt ich von Seiten eines ehemaligen Schülers, der bei München lebt.2* Nun wartete ich eine Weile, ob mir nicht einer meiner Verleger ihn zur Einsicht senden würde; erst als daraus nichts wurde, erbat ich[corr] ihn von jenem Herrn. Der Aufsatz kam als „Fahne“ zu mir, so daß ich nicht wußte, ob u. wo er gedruckt erschien,3 weshalb ich eine Weile mit der Antwort an Sie noch zögern zu müssen glaubte. Doch machte ich fast gleichzeitig den Wiener Verleger4 auf den Aufsatz aufmerksam, der ihn, wenn ich nicht irre, von Ihnen selbst dann erbeten haben mußte u. auch wirklich erhielt. Von ihm nun, dem Verleger kam mir Ende Dezember Ihr Heft zu (selbstverständlich ohne ein einziges Wort der Mitfreude) u. so bekam ich auch Ihre „Nachschrift“ zum ersten Male zu Gesicht.5

In eben den letzten Dezembertagen verschied aber meine über 90 Jahre altgewordene Mutter.6 Da stockte die Feder, alle Arbeit überhaupt. Der Rückblick auf meine Leistung – nach dem Tode des Vaters,7 eines {2} armen, aber weit u. breit hochverehrten Arztes nahm ich, selbst kaum 20-jährig, Mutter samt allen übrigen Geschwistern zu mir u. erhielt sie alle mit dem Ertrage schlecht gezahlter Klavierstunden so lange, bis es mir nach langen, überaus mühevollen Jahren, während deren ich zweimal fast ganz unter der Last zusammengebrochen bin, endlich gelungen ist, die Geschwister zu versorgen u. mich nun ungestörter meinen Arbeiten zu widmen – der Rückblick auf diese Leistung, sage ich, die naturgemäß mit dem letzten Atemzug meiner Mutter ihren Abschluß gefunden, übermannte mich ganz u. schwer. So unendlich, tragisch jene Jahre zu sein schienen, so danke ich heute dem Schicksal gleichwohl für diese Prüfung, denn sie ist war8 es, die mir den Blick in die Welt eröffnete, in die Untiefen der Menschheit, mich mit Reich u. Arm zusammenführte u. Erfahrungen machen ließ, die allein mich dazu berechtigen, so zu den Menschen zu sprechen, als ich es eben tue.

Auch diese Schicksalszäsur ist nun vorüber u. die erste Ruhe, wenn ich von einer überhaupt sprechen darf, benütze ich nun, um Ihnen für Ihren Aufsatz zu danken, Ihnen im Geiste die Hand zu drücken. Was Sie auf den wenigen Seiten fertigbrachten, kann vor Allem nur ein Deutscher machen, u. niemals ein Franzose oder Engländer. Diese echte Hingabe an die Sache, die in der Tat mehr als alle anderen Ideologien, mehr selbst als die Religion, die „Erlösung“ des {3} Menschen bedeutet, wie schön u. edel spricht sie aus jedem Wort, das Sie schreiben! Welches Wohlgefühl auch für mich, zu wissen, daß ich[corr] für Sie nicht weiter in Frage komme, als nur unser Zusammenfinden in der Sache – gäbe es nur für diese Gottheit des Menschengeschlechts9 einen würdigeren Ausdruck ! – es umschreibt: ich trage Ihr großes Lob bescheiden u. gelassen, als wäre ich selbst gar nicht derjenige, den Sie bedenken, nur die Wahrheit, die Seele der Sache damit gemeint, der wir[corr] ja Alle von Herzen u. aus allen Kräften zu dienen haben, wenn es uns um unsere Erlösung, um unser Dasein ernst ist.

Aber sehen Sie, ist es möglich, daß einen solchen Aufsatz selbst unter den Deutschen Jemand anderer10 schriebe, der nicht Ihren moralischen u. geistigen Rang hat? Gewiß nicht. Leider, leider nicht. Und Sie selbst sagen, daß Sie den Grund meiner „esoterischen Einstellung“ nicht fassen11 Wo Sie das schönste Beispiel dafür sind, daß man nur zu einem Menschen sprechen kann, der eben schon selbst, „sehen u. hören“ kann? Glauben Sie mir, mit wirklichem Nutzen läßt sich nur von Führer zu Führer sprechen, u. erst was von diesem abfällt – u. wie herzlich wenig ist das ! – gehört der Welt. Aber da komme ich auf ein Thema, das mir gerade während des Krieges ungeheuere Schmerzen, auch schwere physische, bereitet hat u. bereitet, – auf das Thema vom „Volk“, von dem, was es scheint, was es wirklich ist u.s.w. Und wenn {4} ich kurz sage: ich unterscheide zwischen Beethoven, der aus dem Volke gekommen („Baron Beethoven_“ etwa wäre eine _Farçe, die den lieben Schöpfer als einen frivolen Spaßmacher zeigen würde) u. dem Volke, das Volk geblieben, so erkläre ich damit wohl zur Genüge meine Haltung. Es schadet der Menschheit der Wahn, alles Volk|12 sei wie Beethoven derselben Eigenschaften, in geistiger wie moralischer Hinsicht, fähig. Wir erleben das Furchtbare ja zur Stunde, wo der Wahn vielleicht unheilbare Wunden meinem u. Ihrem Vaterlande schlägt. Aber auch den Adel, den Junker, den Reichen zähle ich zum – „Volke“ – u. meine, alles Heil kommt vom Genie als dem Mittler der Sachen unmittelbar u. durch diese hindurch Gottes unmittelbar.

Und nun nach diesem Credo lassen Sie, mich Ihnen nochmals vom Herzen danken u. der Hoffnung Ausdruck geben, daß II213 uns noch mehr bindet. Dann habe ich eine Aktion im Auge, bei der ich14 auch Ihre Mitwirkung erbitten werde,– doch Alles zu seiner Zeit.

Mit bestem Gruß
Ihr
[signed:] H Schenker
17. Januar 191815

© In the public domain; reproduced here with kind permission of the Deutsches Literatur-Archive, March 2006.
© Transcription Ian Bent, 2006.

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February 7, 1918

DLA 69.930/3 : 2-7-18

Handwritten letter from Schenker to Halm, February 7, 1918

Sehr geehrter Herr Professor !

So peinlich es mir war, Sie auf meine Antwort1 bis heute warten zu lassen, so lohnend anderseits erwies sich mein Verfahren wider den Verleger u. das Resultat! Es hat mich nämlich empört, daß er auch an Ihnen die Gemeinheit des Nichtantwortens verübte, wo er Ihnen gegenüber doch auch schon nach seinen Begriffen Anerkennung zum Ausdruck hätte bringen sollen.2 Freilich konnte nur ich allein wissen, weshalb diesmal der Verleger scheinbar gar so unkaufmännisch, so wenig auf Rezension ??gicht[?] sich verhielt : nachdem er an recht vielen Bespielen bemerkt hat, daß ich durch ihn auf meine eigene Rechnung (freilich etwas reduzierte) dies oder jenes von mir schicken lasse – ihm gegenüber halte ich mich so unabhängig, daß ich Geschenke bezw. Gegengeschenke an Nichtmusiker eben selbst bezahle, statt hin, was sonst üblich ist, einfach wie Rezensionsexemplare zu fordern –, dachte er bei sich, am Ende würde ich selbst auch die Kosten der Rez ex. an Sie auf mich nehmen, was ihm nun doppelten Vorteil (meiner u. Ihrerseits) eingebracht hätte. Sie können sich denken, daß ein Kopf, wie der eines solchen Verlegers, außerstande ist zu begreifen, daß für unsereinen gar keine besondere Röntgenisierungskraft dazu gehört, sein Nutzenseelchen zu durchleuchten; er kanns nicht fassen, daß ich seine Schlauheit zunächst doch {2} als Frucht einer bloßen Unfähigkeit erkenne, zwischen einem Ihnen vor allem zukommenden Rezensionsexemplar u. einem Gegengeschenk an einen Nichtmusikalischen zu unterscheiden.

Um nun die Gemeinheit ad absurdum zu führen u. zu strafen, griff ich sofort nach Erhalt Ihres l. Schreibens ein,3 indem ich dem Verleger ein Briefchen schrieb. Der arme Tropf hat aber auch dieses nicht beantwortet, was ich schon zum voraus wissen konnte. So habe ich dann endlich den Käfer, der sich todt stellen wollte, plötzlich anders gepackt u. ihn lebendig gemacht : ich schrieb ihm eine recom. Karte, so in meiner Art („ich vermisse u.s.w.“), u. auf diesen derberen Griff hin lockerte sich sein Gehirn . . Heute erhalte ich von ihm die Mitteilung, daß er an Sie alle meine anderen Arbeiten geschickt hat.4 (Nebenbei will er von Ihnen einen Brief überhaupt nicht erhalten haben (!! Lüge), der meinige soll ihn angeblich unrecht (!) u. auch “überbürdet” angetroffen haben .u. was[?] derlei Verlegeridiotismen mehr sind[?]. Das Ergötzlichste aber an der ganzen Sache ist, daß er zu mir im Ganzen eine sog. gute Beziehung unterhält, u. mir sogar wegen der „Kl. Bibl.“5 ein Jahresanbot machte! Schade nur, daß das Herausoperieren von solchem kleinen “Nutz“forumkerle[?] kostbarste Zeit vergeudet! Neugierig wäre ich, wie der selige Herakles mit – Verlegern fertig geworden wäre! Ich schwimme für die Keule!

Zur Sendung selbst habe ich nur zu bemerken, daß H. Niloff,6 d.h. {3} ich selbst, diese Kleinigkeit aus Erbarmen für seine Schüler u. für die Kritiker der Tageszeitungen in Wien, vor vielen, vielen Jahren verfertigt hat, die – ich habe es selbst erlebt ! – engl. tirner[?] auch also „gestopft[corr]“ in ihren Referaten bewendet haben, S. Bach’s Klarinetten in alle Himmel hoben. Zum Überfluß schenkte ich diese Kleinigkeit dem Verleger buchstäblich u. bedang mir nur aus, daß sie nicht teuerer als mit 1 Kr. 20 verkauft werde.7 Sie wurde mehrfach übersetzt – mit der Harm. u. Kontrap.lehre wird es wohl kaum hergehen –, in mehreren Aufl. ausgegeben.

Auf das, was ich in den Beilagen zum Heft der Zeitschrift gefunden, komme ich, bis ich nur II2 endgiltig abgeschlossen habe, noch zurück. Das Heft des „Neuen Österr.“, von dem nur übrigens vorgestern ein Schüler von mir selbst erzählte, habe ich bestellt.8 Von Ihnen besitze ich schon seit Langem, wie ich es schon geschrieben zu haben glaube, das Buch über Bruckner („Zwischen zwei Kulturen“9), habe Sie sonst immer eifrig gelesen, was ich Sie nur fand. Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie mir mit 2 Zeilen – schonen Sie bitte Ihre Zeit! – zur Kenntnis brächten, auf welche Arbeiten Sie selbst Wert legen u. ich schaffe Sie mir an, denn daß Sie Kosten tragen, wäre mir ein peinlicher Gedanke.

Bezüglich des „Volks“10 nur dieses : jedem Schüler gegenüber verfahre ich so, als wäre er zu höchstem, künstlerisch u. menschlich, berufen. An mir selbst spare ich also durchaus nicht, u. so mündet {4} dieses Verfahren doch auch in den Gedanken Kant’s, den Sie zitieren. Gewissermaßen ist das „praktische Vernunft“, – sie hebt aber die „reine“ nicht auf, und vor dieser besteht das „Volk“ mir leider in einem anderen, viel schlechteren Sinne, als man es heute auch nur ahnt, wobei ich unter Volk oben und unten der „Stände“ verstehe.

Mit besten Grüßen an Sie
Ihr ergebener
[ sign’d:] H Schenker
7. Februar 1918

© In the public domain.
© Transcription Lee Rothfarb, 2006.

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December 9, 1918

DLA 69.930/4 : 12-9-18

Handwritten letter from Schenker to Halm, dated December 9, 1918

Sehr geehrter Herr Professor !

Vor zwei Jahren ist eine Schülerin von mir verstorben,1 eine ältere Dame, die etwa 16 Jahre hindurch meinen Unterricht genoß. Sie hinterließ ein Testament, in dem sie einen Verein zum Haupterben einsetzte, daneben aber auch 2 Stipendien für Künstler errichtete, über die zu verfügen sie ausschließlich mir allein auftrug. Wäre die musikalische Gegenwart nicht so trostlos, welche Freude müßte es da einem2 bereiten, vom Vertrauen der Erblasserin getragen, überall dort beizuspringen, wo Hindernisse (Verleger!) diesen oder jenen Plan lähmen! So aber hatte ich wenig Neigung, das schöne Amt mich zu nehmen, wie ich auch in einem anderen Falle es abgelehnt habe, mit unserem Musikhistoriker Prof. Guido Adler das Jury-Amt zu teilen.3 Doch gelang es dem Bruder der Erblasserin4 sowie dem Testamentsexecutor mich zumindest zu einem Versuch zu überreden. Ich faßte nun[?] dies[?] Künstler ins Auge u. harrte der ersten Gelder der Verlassenschaft5, um zur Tat zu schreiten. Da kamen aber allerhand (mir fremd gebliebene) Verwicklungen in die Verlassenschaftsabhandlung, die bewirkten, daß diese noch bis zur Stunde das Gericht beschäftigt, u. daß auch die Stiftung der Stipendien {2} überhaupt ganz ins Wasser gefallen. Obzwar der Bruder der verstorbenen Dame einer der reichsten Großindustriellen Österreichs ist, fiel es ihm dennoch nicht ein, die Konsequenz aus seiner ersten Geltung zu ziehen.6 Glücklicherweise hat mich eine andere reiche Schülerin,7 die zu mir nun über 18 Jahre kommt, in die Lage versetzt, mir selbst Wort zu halten in jenen ...[?] Fällen, die ich im Auge hatte.

Am 5. Januar als am Todestage der Erblasserin soll der Betrag zur Auszahlung kommen. Und da frage ich Sie nun, ob es Ihnen angenehm wäre, wenn ich Ihnen um diese Zeit den Betrag von 1600 Kronen für Ihre Zwecke überweisen würde? Im Vorjahre hat das noch über 1000 Mk. ausgemacht; ob bei dem niedrigen Kurse der Kronen auch heuer8 derselbe Betrag in Mk. sich ergeben wird, weiß ich nicht.

Indem ich Sie um Ihre frdl. Zustimmung bitte, erbitte ich zugleich Auskunft, auf welche Weise ich Ihnen die Summe zukommen lassen könnte. Haben Sie vielleicht hier in Wien einen Vertrauensmann? Wenn nicht, würde ich den Versuch machen, durch eine Bank die Erlaubnis (eine solche ist nämlich unter allen Umständen nötig) von der maß[?]gebenden Stelle zu erlangen.

Ich frage, wie Sie sehen, schon heute an, um, Ihre Zustimmung vorausgesetzt, sobald als möglich die Sache in Angriff zu nehmen. Der Sicherheit halber bitte ich Sie auch Ihre Antwort an {3} mich eingeschrieben zu senden.

Sind Sie in Ihren Arbeiten doch die Verhältnisse sehr gehemmt, oder gewinnen Sie Oberhand über die unsäglich traurige Verwirrung in politischen Dingen, die meines Erachtens, wie die musikalische auf R. Wagner, lediglich auf K. Marx zurückzuführen ist?9

Mit bestem Gruß
Ihr sehr ergebener
[ sign’d: ] H. Schenker
Wien, 9. Dezember 1918

© In the public domain; reproduced here with kind permission of the heirs of August Halm.
© Transcription Ian Bent & Lee Rothfarb, 2006.

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December 16, 1918

DLA 69.930/5 : 12-16-18

Handwritten postcard from Schenker to Halm, dated December 16, 1918

{recto}
[Absender:] Dr H Schenker
Wien, III
Reisnerstr. 38

[An:] H [/] Prof August Halm
Esslingen a/ Neckar
Panoramastr. 11
Deutschland

[postmark:] || 3/1 [WIEN] |16.XII.18 – 3 | * 4 [?] * ||

{verso}
Sehr geehrter Herr Professor!

Ihre frdl. Zustimmung, die ich heute erhielt,1 war mir schon genügende Grundlage, um den geigneten Schritt zu unternehmen. Nach Aussage des Bankleiters, die ich gleich einholte, besteht Aussicht auf Einwilligung seitens der deu[ts]chen Zentrale2. So viel in Eile.

Mit bestem Gruß
Ir
[ sign’d: ] H Schenker
16. Aug. 1918

© In the public domain.
© Transcription Ian D. Bent, 2006.

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February 13, 1919

DLA 69.930/7 : 2-13-19

Handwritten postcard from Schenker to Halm, dated February 13, 1919

{recto}
[Absender:] Dr. Heinrich Schenker
Wien, III
Reisnerstr. 38

[An:] H [/] Prof. August Halm
Esslingen a/ Neckar
Panoramastr. 11
Deutschland

[postmark:] || 3/ WIEN 9 | 14.II.19 –[?] | * R * ||

{verso}
Sehr geehrter Herr Professor!

Vorläufig sei Ihnen nur herzlich gedankt fur Ihre letzten Sendungen.1 Ich komme auf diese wie auf die vorausgegangenen erst im Sommer zurück, da jetzt sowohl die Pflichten als auch die allgemeine Krisis einst die genügende Muße nicht aufkommen lassen!

Mit bestem Gruß
Ir sehr ergebener
[ sign’d: ] H Schenker
13. Febr. 1919

© In the public domain; published with the agreement of the heirs of August Halm 2006.
© Transcription Ian Bent, 2006.

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October 27, 1919

DLA 69.930/8 : 10-27-19

Handwritten letter from Schenker to Halm, dated October 27, 1919

[ stamped: ]
Aug. Halm
ESSLINGEN a.N.
Panorama 11

[ handwritten: ]

Sehr geehrter Herr Professor!1

Es fällt einem wahrlich nicht leicht, in der deutsch-österreichischen Wüste sich heute auf die Oase des Geistigen zu retten. Wie die gesammte Bevölkerung in unerhörter Weise brutalisiert wird, muß auch der Einzelne seine Tracht Prügel wegbekommen. Gar ich leide unsagbar schwer unter der Erkenntnis, daß die Menschen hier keine Aussicht haben, mit sich ja ins Reine zu kommen darüber, weshalb es so kommen mußte, so fortgeht. Niemand weiß hier, was Amerika, Frankr., Engl., Italien sind, was bestenfalls sein Können oder Dürfen: mit jeder Stunde, fällt man tiefer in die Schande der Auslands-Prostitution, gibt besseres auf, um schlechteres einzutauschen, so in Politik, wie Kunst u. Literatur. Das ganze Geschlecht kann nicht sehen, nicht denken lernen, – so reicht es sich bitter, daß man auf die Zeugen, statt Goethe, Herder, Schiller, Lessing, statt Bach, Mozart, etc. zuerst Herzog, Skovronek|2, Rolland, A. France, zuerst „Tristan“ u. „Elektra“ legt – u. 100 Jahre nach Beeth. müssen wir Beckers’3 vor die Türe setzen, u. 200 Jahre nach Bach müssen Sie eine „Klavierübung“ schreiben . .

Es macht Ihnen alle Ehre, wie Sie da den Tauben4 die Ohren {2} öffnen, den Fingern gleichsam Verstand und Augen geben. Diese schöne, echt deutsche Liebe zum Stoff, zum Schüler als Adepten der Kunst u. als – Menschen! Wie drückt sich das alles in jeder Wendung der schönen Sprache aus, die schon allein den Schüler heben muß, in der Führung jedes einzelnen Problems, das ihm vorgeführt wird. Beinahe möchte ich glauben, daß Ihre „Klavierübung“ einem Selbstlerner mehr Segen bringen wird, als einem, der sich eines Lehrers bedient. Ohne den Lehrern es zu verargen, die ja mit dem Leben so schwer zu ringen haben, meine ich doch, daß mit der quantitativen Zunahme dieses Standes die qualitative Erleuchtung leider nicht gleichen Schritt halten kann, u. ich befürchte, daß Ihre schöne Arbeit, die ja beinahe alle xxx Mühe dem Lehrer abnimmt,5 gleichwohl das Gesetz der „Masse“ nicht werde überwinden können. Sie haben aber Ihre Pflicht getan u. müssen es nun der Welt überlassen, ob sie folgen will oder nicht.

Was mir persönlich sehr zusagte, war die Art, wie Sie ständig die „Diminution“ im Auge behalten. Dim hat uns auf die höchste Stufe gebracht, so muß man denn vor allem eben sie befragen, wenn man auf den Urkern kommen will. Auch der Schüler, Kenner und Genießer muß denselben Weg zurücklegen, den der Komponist, den die Musik überhaupt gegangen.6

Fremd aber, – Ihnen gegenüber spreche ich ganz frei u. will damit {3} unsere Beziehung nur ehren – ist mir der Grund geblieben, weshalb Sie in der Frage der Bogen-Artikulation nicht dem Original folgen, z.B. Mozart, Ad. Son., deren Thema ja: [mus.ex._] beobachtet, und nicht: [cued from top margin:] so stehts auch nicht bei mir7 [mus.ex.]. Als Schaffender müssen Sie wohl die Tücke der Artikulations-Frage am eigenen Leibe zu sehr erfahren haben, um nicht zu wissen, daß sie alle Musiker beunruhigt, u. peinigt. Fürs Erste, ich meine: bis zur Lösung dieser Frage, dürfte die Treue zum Original zumindest mit weniger Gefahren verbunden sein, u. es sollte meines Erachtens kein Schüler ein anderes Bild zunächst zu sehen bekommen, als der Autor selbst hinterlassen.

So treffend der Gedanke ist, den Schüler schon in diesem Stadium, z.B. zu Bach’s Prael. u. Inventionen zu führen, u. so schön Sie auch zumeist, von Übung zu Übung wie von Assoziation zu Assoziation wandernd, sich an diese Kostbarkeiten heranpürschen, so wenig ratsam finde ich andererseits die Methode, an irgend einer Stelle selbst einzugreifen, u. die Stücke zu Ende zu führen. Selbst bei jenen Komponisten, die, wie Sie, mit Recht das Kunstwerk auf die Stimmführung stellen, ist diese Kraft, da inzwischen ja die Wagner-Moräne niedergegangen ist, u. die Wege wieder neu gebaut werden sollen, noch nicht von der letzten Geschmeidigkeit, wie sie erforderlich wäre, um eine Bach’sche Führung fortzusetzen. Ich wüßte mir für {4} mein Teil nichts Anregenderes, als mich gerade mit Ihnen über dieses Stadium unserer gegenwärtigen Stimmführung mündlich zu unterhalten. Was für Imponderabilien kämen da zur Erörterung, vielleicht weniger greifbar in Vortrag als schwingend vom Wunder Ihres Nervs zum Wunder xxx meines Nervs, u. dennoch von Beweiskraft auch das ungehörteste Begebnis, im Guten wie im minder Guten!

Nun, vielleicht kommt es evl auch zu einer solchen mündlichen Unterhaltung. Denn ich will Wien verlassen, um nach Deutschland zu ziehen. Ich habe es wenigstens vor, u. habe die Empfindung, es sobald als möglich auszuführen zu sollen, um Leben u. Arbeit zu retten. Wäre ich doch nur schon mit II2 fertig, damit die anderen eigentlich schon fertigen Werke auch vorwärts kommen könnten!

Ich grüße Sie aufs herzlichste u. freue auch schon zum Voraus auf die Fortsetzung der „Klavierübung“[.]

Ihr
[ sign’d: ] H Schenker
27. Okt. 1919

[ stamped: ]
Aug. Halm
ESSLINGEN a.N.
Panorama 11

© In the public domain; published with kind permission of the Deutsches Literaturarchiv, 2006.
© Transcription Ian Bent & Lee Rothfarb, 2006.

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January 18, 1920

DLA 69.930/9 : 1-18-20

Handwritten letter from Schenker to Halm, dated January 18, 1920

Veehrter, lieber Herr Professor !

Vielen, vielen Dank für Ihren lieben Briefe u. die beiden Beilagen (die ich hier gleichzeitig beischließe).1 Es war ein glücklicher Gedanke von Ihnen, die Original-Dokumente beizulegen. Schon die optische Erfahrung war mir von Nutzen u. mußte es mir sein, wenn Sie bedenken, daß ich zeitlebens auf die Gegenleistung des Verlegers fast gar kein u. nur auf meine eigen[e] Leistung Gericht langte. Ich wußte genau, daß der Verleger2 mich ausnützt, nicht etwa, daß er mich für einen jener Prostituierten des Intellekts gehalten hätte, die sich um jeden Preis gedruckt sehen wollen, sondern er hatte es sofort heraus, daß meine Opferfreudigkeit ihm Gelegenheit gebe, seine Vorteile überbestens zu wahren. Und ich wieder gönnte ihm diese Kapitalistische Onanie, weil ich nur Eines wußte u. mußte, so gut als es noch geht, das Material der Tonkunst, das Handwerk, die Stimmführung – im allerletzten Augenblick – zu retten. Und auch noch heute suche ich keinen Vorteil, nur muß ich mich dagegen wahren, daß der auf der Basi[s] der Geldgier sich ins infinitum verlierende Verleger meine Arbeit schädige, wenn er sie schon nicht fördert. Was sind ihm alle meine Pläne u. Arbeiten, die da noch ausge- {2} führt werden sollen, was meine Gesundheit als Voraussetzung einer Arbeitsmöglichkeit überhaupt, wenn er darüber den Genuß verlieren müßte3, für eine vorliegende Arbeit blos z.B. 1000, 1200 K bezahlen zu können. So muß ich dann selbst das Kapital besser vertreten, als der Kapitalist es tut, u. um dem Verleger Zinsen u. Zinseszinsen einzutragen, muß ich, gegen seine eigene Unfähigkeit kämpfend, bessere Arbeitsbedingungen ertrotzen,4 zumal heute, wo als in einer Epoche der Welteselei bezeichnenderweise nur mehr der amerikanische Dollar gilt, u. keine Krone, keine Mark mehr daneben.

Nun, für op.101, habe ich mich mit 15000 K (etwa = 5.000 MK) beschieden, daß der Verleger darauf eingegangen ist, hat sich nachträglich als eine Finte, als ein Köder erwiesen, denn an der „Kl. Bibl.“5 gedachte er sich, sein kapitalistisches „Entgegenkommen“ abzubauen. Aber auch auf 600 K per Bogen der „Kl. B.“ (bis 5000 Ex., dann noch einmal 600 K) wäre ich um der Sache willen schließlich eingegangen, wenn ich nicht Ursache gehabt hätte, mich als Ausbeutungsobjekt des Verlegers besser zu schützen. Was hat denn der Zinsenfex von einem Krank gewordenen Autor ? Und so ist es daxxx in der geistigen Welt denn doch nicht, wie in der ungeistigen, wo der abtretende Eine durch einen beliebig Anderen ersetzt werden kann. Die Angelegenheit ist noch nicht geordnet. Der Verleger hat das Wort.

Was Sie zum Inhalt der „Kl. Bibl.“ äußern, hat mich tief bewegt. Mir selbst ist, wie ich schon geschrieben zu haben glau- {3} be, das Wichtigste der II2-Halbband,6 worin die Stimmführung des freien Satzes und ihrer völligen Identität mit der des sog. strengen befunden und nachgewiesen wird. „Semper idem, sed non eodem modo“,7 leuchtet in jeden Abschnitt hinein: dieselbe Mottofackel vom 3-stimmig[en] str. Satz ab über den 4- u. mehrstimmigen, über Mischungsgattungen zum freien Satz und hier wieder vor den Abschnitten über Stufen, Auskomponierung, Stimmführung, 5–5 bz. 8–8 Folgen, Durchgang, Synkope, Klaviersatz u. Abbreviationen, Generalbaß, Choral, u.s.w. Lediglich um dieses Nachweises willen halte ich ja ein druckfertiges Material vom Umfang eines Bandes schon seit Jahren zurück; denn, was ich von keinem Argument erwarte, erwarte ich von der rein äußerlichen Wirkung des Beisammenseins vom strengen u. freien Satz im Raume desselben Bandes. Ihren Augen werden es die Leser eher glauben, u. Alles ist gewonnen, wenn die Musiker mit mir zu den „Urmüttern“ hinabsteigen u. dort eine ewige, unzerstörtere Einheit erfahren, in deren Namen sie werden aufhören müssen, die Welten des str. u. fr. Satzes einander entgegenzustellen, von Regeln und Ausnahmen zu sprechen . . .

Nur aus dem Gefühl scho solcher Einheit schöpfen die Genies die Unendlichkeit u. Mannigfaltigkeit im Individuellen: Aber die übrige Welt? Dieser muss auch das Individuelle sich verschliessen, wenn sie nicht irgendwie, u. sei es noch so leise, an das Mysterium der Urgesetze anklopft. {4} Die Analysen waren u. sind mir, wie Sie daher begreifen, blos Beispiele aus jenem Paradies der Einheit. Und mit Ihnen teile ich im Innersten eine gewisse Unlust, die Musiker zu viel vom Baume der Erkenntnis essen zu lassen; zumindest das Paradies der Kunst bleibe uns noch lange ein Paradies, wenn uns ein anderes verlorengegangen. Bedenke ich aber, daß am Untergange unserer Kunst nichts so Schuld trägt, als das allzu Adam- u. Eva-hafte der Menschheit, die sich im Eden unserer Größten gut gehen ließ, als der Bruch im Musikorgan, der die Einheit von Vertikalem u. Horizontalem nicht mehr aufkommen läßt, so drängt es mich unwillkürlich, mit noch, noch einem Beispiel nachzuhelfen . . . . Wie glücklich könnte die Menschheit sich ausleben u. ihr Gottes-Ebenbildhaftes austragen, wenn sie nur von der Kontinuität der Geschlechter als einem so naheliegenden Analogon, das sie selbst absolviert, auf eine ähnliche Kontinuität im Geistigen zuschließen wüßte, statt die Ewigkeit der Urgesetze mit der rastlosen Sucht nach neuen Anfängen zu beleidigen als angeblich Quellen neuer Urgesetze. Noch gäbe es in der Welt unserer Genies Platz genug für tausend anderer, aber nein!, er findet die Kraft zum Anschluß nicht.

Eine Musikgeschichte müßte vor Allem ja eben die Einheit auch in den Genies aufzeigen; sie zu schreiben, setzt aber voraus, daß die Einheit schon in den Urgesetzen, im Material vorerst nachge- {5} wiesen würde. Die Voraussetzung zu erledigen, ist, wie Sie sehen, nun mein heißestes Bestreben, u. daß ich gerne dann auch das Schicksal der Urgesetze, wie es von den Künstlern im Laufe der Jahrhunderte erlebt wurde, darstellen möchte, wollen Sie mir glauben. Wird mir das aber beschieden sein, in einer Welt, die nicht einmal mehr in den einfachsten Dingen sich zulänglich erweist, u. in eine zweite „ägyptische“ Finsternis geraten ist, gegen die die erste, reinste Sommerhelle gewesen?

Wäre ich nur von Stunden frei, ich getraute mir Alles zu ! Das Tragische ist ja, daß die Möglichkeit, ein blos der Arbeit gewidmetes Leben zu führen, an sich gegeben ist, sogar bis zu einem gewissen Grade leicht gegeben ist, daß dennoch aber diejenigen versagen, die durch Gründe der Vernunft, des Anstandes, auch des Blutes {6} sich zu dem für sie mühelosen Geschäft wohl müßten bestimmen lassen.

Wir wollen sehen.

An Ihren Erfolgen nehme ich freudigsten Anteil. Das Reine Ihrer Bestrebungen muß doch wohl Jedem, auch einem „sachlichen“ Gegner, – wüßte ein solcher nur aber, wie gerade die Sachlichkeit für Sie spricht – Respekt abnötigen. Mit Freuden hörte ich die Respektbezeugung von seiten Furtwänglers, der so oft in Wien einkehrt.8

Nun sei Ihnen zum Beschlusse nochmals mein bester Dank für Ihre schöne Gesinnung ausgedrückt, ...[?] füge ich meine

herzlichsten Grüße
Ihr
[ sign’d: ] H Schenker
18. Jänner 1920

© In the public domain; published with the permission of the Deutsches Literaturarchiv, March 2006.
© Transcription Ian D. Bent and Lee Rothfarb, 2006.

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September 25, 1922

DLA 69.930/10 : 9-25-22

Handwritten letter from Schenker to Halm, dated September 25, 1922]

[This edition conflates two texts, DLA 69.930/10 and OC 1/B 29–31, noting only the significant variants between the two. OC 1/B 29–31 is a fair copy of a presumed prior draft; however, Schenker copied one large section of the draft out of order, and had to make a second fair copy in the correct order.]

Lieber u. verehrter Herr Professor Halm!1

Für Ihren l. Brief besten Dank.2 Inzwischen ist auch Ihr opus angelangt, für das ich nicht minder herzlich danke. Im 4. Heft des „Tonwille“ dürfte ich die erste Gelegenheit haben, Ihrer „Klavierübung“ zu gedenken (das 3. Heft ist schon im Druck)3 u. bis nur die Schwierigkeiten des Unterrichtsanfanges vorüber sind, will ich Ihr opus durchstudieren u. Rechenschaft legen. Und gleich beantworte ich Ihre letzte Frage nach dem Plan meiner Auswanderung. Durch Prof. Straube|4 brachte ich in Erfahrung, daß im Vorjahr die Universität Leipzig an meine Berufung dachte, schließlich aber davon Abstand genommen in Erwägung, daß mir ein rein künstlerischer Wirkungskreis besser zusagt, als der mehr historisch gerichtete innerhalb der Universität. Wie nett u. richtig eingefunden! Ob es Straube’s Bemühung gelingen wird, mich nach Leipzig oder Berlin zu bringen, weiß ich nicht. Einer Berufung auf die Hochschule Berlin|5 steht, glaube ich,6 meine ausgesprochene antidemokratische Gesinnung entgegen. „Handschellen für reaktionäre Burschen!“ dürfte das Musiker-Collegium mit Scheidemann|7 sagen.

Ihre Anerkennung meines Gesamtwirkens im Ganzen u. Einzelnen schätze ich hoch. Doch gestehe ich selbst, daß das Neue in II2 erst durch II38 (den nächsten Band) sich klar auswirken kann, so die Begriffe Knotenpunkt9, Quartraum, und –Zug, 710 als Dchg. u. als Vorhalt, Durchgangsgesetze überhaupt u.s.w. Ich muß mich also in Geduld fassen u. alles Verkennen oder Misverstehen hin- {2} nehmen, wie es eben kommen mag. Denn nichts fällt dem Menschen so schwer, als der Anblick von Urgesetzen. Wer nicht eigene Kraft hat, zu ihnen vorzudringen, vermag auch nicht zu folgen, wenn ein Anderer ihm die Erscheinung in das Urgesetz auflöst; schon nur das Betrachten der Einzelerscheinung erschöpft seine ganze Kraft, geschweige daß er etwas erübrigte11 für das Erfassen eines Urgesetztes, das ihm ein fremdes Geistiges bleibt, obgleich es in der Erscheinung auch sichtbaren Niederschlag hat. Außerhalb der Kunst macht sich diese Unzulänglichkeit12 nicht minder geltend: auf den Gebieten der Kultur, Religion, Politik begegnen Sie ihr zu allen Zeiten; man scheitert schon an Einzelerscheinungen, entwickelt gleichwohl aber „Ideen,“ „Utopien,“13 die im selben Maße falsch sein müssen!

Und da bin ich schon bei dem Kern dieses Briefes, den ich, die letzten freien Tage ausnützend, etwas weiter zu fassen mich entschloß. Ursprünglich hatte ich vor, das ganze Material, das ich auf dem Tische eigens aufgeschüttet habe, zu verwenden. Ich sah aber die Unmöglichkeit ein u. bescheide mich, den Windungen Ihres Briefes folgend, blos Bemerkungen zu machen.

[„Briand“]|14 Als ich vor vielen Jahren mit Schönberg, den ich oft sah u. der mich geradezu liebte,15 über Reger sprach, stieß ich auf unerklärlichen Widerstand. Nach 1½ Stunden müssigsten Hin- u. Herredens schöpfte ich Verdacht u. frug: “Lieber Schönberg, was kennen Sie eigentlich von Reger?“, Nichts, nicht eine Note,“ bekam ich zur Antwort. Da ließ ich meinen Unmut wilden Lauf . . . Nun, Schönberg bin ich nicht, – sowie ich z.B. über Bruckner, Strauss spreche, nachdem ich ihre sämtlichen Werke nicht nur erworben, sondern auch genau gelesen u. in Konzerten oft16 gehört habe, so treibe ich es auf jedem {3} anderen Gebiet. Nicht eher spreche ich, bis ich nicht, wie17 in der Musik, gleichsam die Urgesetze mir vergegenwärtigt habe. Obgleich vollständig mittellos, von der Hand in den Mund lebend, habe ich in allen Kriegsjahren nicht weniger als 9 Tageszeitungen aller Richtungen (des Auslands u. Inlands) ins Haus bezogen, – wissen Sie noch einen auf dem Erdenrund, der ein solches Geldopfer zu bringen Mut gehabt hätte? Dabei habe ich selbst den reichsten Schülern gegenüber auf jede angebotene Honorar-Erhöhung grundsätzlich verzichtet, um mich nicht mit einem Mehr-Geld zu beschmutzen, das mir, trotz zunehmender Teuerung, ein Verbrechen an den Kämpfern draußen erschien. Über dem Vorrat, den ich in so vielen Blättern auftrat–dazu verschlang ich außer Hause Alles nur irgendwie Erreichbare18– verlor ich 30 Pfund an Körpergewicht; ich litt unsäglich, ließ aber nicht ab, das Treiben der Demokraten, Sozialdemokraten, Nationalen, Pazifisten, Internationalisten in ihren Blättern zu verfolgen u. die wichtigsten Belege – aufzubewahren ! (Ich schätze sie auf viele, viele Tausend Stück.) Im weiteren Verlaufe hatte ich mir Urteil genug z.B. über unsere „Arbeiter.Ztg“ (= Berliner „Vorwärts“)19 gebildet, um sie wegen ihres (aus Unreife) eckeln Betragens aus dem Hause20 zu entfernen, beziehe aber noch heute, wo ich mit dem Leben entsetzlich ringe, 3 große Tagesblätter, aus Wien, Berlin u. Frankfurt, die verschiedener Richtung sind. Wie oft mußte ich schon den Verlag ersuchen, mir bei den Quartalsbestellungen21 mir mit den unerschwinglichen MK22 auszuhelfen,23 u. lasse von dieser Gewissenhaftigkeit doch nicht ab! Daß es eine innere, keine blos äußerliche ist, nehmen Sie nach alldem wohl selbst an. {4}

„Harden“]|24 In jüngsten Jahren noch, da ich Mutter, Schwester, jüngeren Brüder (den heute so undankbaren Milliardär)25 u. Nichte von Klavierstunden zu erhalten hatte, nahm ich den Antrag eines Wiener Harden-Freundes, für ihn etwas zu schreiben, gern an. Es waren das überhaupt meine ersten Versuche u. ich danke es H., daß er Mut hatte, sie zu veröffentlichen, denn die vielfachen Auswirkungen der Mitarbeit helfen immerhin eine bessere Zukunft26 vorbereiten. Er bezeigte mir, ohne daß er etwas verstanden hätte, unbegrenztes, ja rührendes Vertrauen vom ersten Augenblick an, doch konnte ich diese Liebe nicht erwidern. Ich sah bald, daß er keine Frage von Hand aus selbstständig beherrscht, folglich verurteilt ist, nach sachfremden unwesentlichen, sogar fremden Gesichtspunkten27 zu urteilen. „Anders als die Anderen“ mußte unbewußt ihm Loh[n]ung werden, der er bis zur Stunde folgt. Und doch war er gerade dadurch genau wie die Anderen, die ihre Unselbstständigkeit (= Unzulänglichkeit) in derselben Art28 vor sich selbst verbergen. Er beschimpfte die Zeitungsherausgeber, die „Kulis“ als wäre ein Tagblatt ohne irdischen Schmutz überhaupt möglich – unser Karl Kraus ist genau so kindisch unreif –, hielt es aber selbst ganz anders. Auch29 mir gegenüber scheute er sich nicht, öfter30 Beeinflussungen zu wagen, je nachdem er selbst31 beeinflußt worden. (Ich gab aber nicht nach.) Ein pathetischerer H. Bahr|32 ist er blos allezeit gewesen, ist mit Allem gegangen, was mir nach Minorität roch u.s.w. besonders abstoßend wirkte auf mich seine „Monarchen-Erziehung,“ die ihm Kerker eintrug.33 Nicht nur fand ich den Aufsatz flegelhaft, sondern vor Allem zu billig. Hätte er nur, wie schon dazumal ich selbst, in das Leben der historischen Reichen Einblick gehabt (aus nächster Nähe), es wäre ihm nicht eingefallen, daß mehr „Erziehung“ zu suchen, als sich der Sachlage nach überhaupt erzielen läßt.34 Mit demselben Rechte müßte er die Masaryk[35] Harding,36 Ebert,37 Wilson,38 u.s.w. beanstanden.39 Der Beruf, der Umfang der Geschäfte ziehen {5} da Grenzen, die nur in den seltensten Fällen einer zu überschreiten die Kraft hat. Nicht einmal über die eigenen Güter, die irdischen, hat so einer Überblick: ein majordomus muß täglich Vortrag halten, der den Besitzer nur40 langweilt. Auf „Vorträge“ ist jeder Präsident angewiesen,41 u. genau so ist es bei einem Kaiser, der nicht Alles zu wissen, Alles zu können braucht. Ein arger Misbrauch H’s – wieder eine Mantelhängerei – war es, der mich veranlaßt hat, ihm – verzeihen Sie das42 Wort – einer Fußtritt zu geben, trotz aller43 Not. Dazu kam noch die Einsicht, daß ich mich den Lesern gegenüber nicht so verständlich machen konnte, als ich auf andere Art es erhoffen dürfte. Schon damals habe ich meine Theorien entworfen u. es drängte mich übermächtig, sie auszugestalten.

VolkRegierung“]|44 Es sei Ihnen verraten, daß ich für die Zeit nach dem Erscheinen des IV. Bd.45 u. der „Formenlehre“46 ein Werkchen plane, etwa „Zukunft der Menschheit“ betitelt:47 Bis dahin wird das vollständige Werk der „Th. u. Ph.“48 den Beweis erbracht haben, daß es geradezu Pflicht eines Menschen ist, der Einblick in Urgesetze hat, wenn auch nur solche musikalischer Art, sich zu dieser Frage zu äußern: daß er dazu mehr Befugnis hat, als die vielen Minister, Parteiler, Philosophen u. Dichter,49 die den Anblick von Urgesetzen ein genossen, steht fest. Könnten Sie die ungeheuren Zurüstungen sehen, die schon seit Langem gemacht sind, Sie hielten es für Blendwerk! Wer wie ich die Synthese eines Geniewerkes erfüllt u. in Worte gefaßt, darf sich an jene Aufgabe mit mehr Recht wagen, als die Rollands,50 Barbusses,51 Bernstein,52 Kautsky,53 Marx, Engels, Wells|54 u.s.w.

Aus Hochschätzung für Sie, den ich als einen Mann ohne Tadel kenne, will ich hier einige Bekenntnisse ablegen, die, ich kann sagen, seit Kindheitstagen mit mir gehen. Ich will sie nicht in der Sprache ausdrücken, die heute allen Unklaren eigen ist, sondern so natürlich als möglich, das Wort im heiligsten Sinne der Natur verstanden. {6}

Antropomorphes,“ „Antropozentrisches“ Denken ist mir55 eine Beleidigung der Natur, ein Größenwahn des Menschen. „Heiligen Frieden in der Natur“ sieht der Mensch, wenn nur er selbst die Arbeitsstätte verlassen u. z.B. einen Ausflug macht: die Natur raste mit ihm, meint er. Auch Dichter fühlen so, u. doch finde ich es dichterischer, mich bescheiden vor dem Kampf zu neigen, der in der Natur auch während meiner Feierstunden rast. Auch ich ihr Kampfobjekt, füge ich mich fürchtig u. dankbar, wie ein neuer Adam, ein: so fühle ich mich glücklich.

Was Menschen sonst an jeder Jugend als „Entwicklung,“ „Fortschritt“ wahrzunehmen glauben, halte ich blos für Reflex körperlichen Wachstums: lassen Sie dieses ein reifes Stadium erreichen, u. schon auch ist der Durchschnittsmensch da, mit seiner56 unüberschreitbaren Grenze. Daß die Jugend selbst sich im „Fortschritt“ nährt, ist auf die gleiche Täuschung hinzuführen, die der Reisende hat, wenn er die Eisenbahn benützt: Die Landschaft steht, u. so steht auch der Kopf, während das körperliche Wachstum ein geistiges vorläuft.

Der Mensch duftet nur aus dem Gehirn, stinkt aber aus dem Gedärm. Das ist Wille der Natur, der das Genie wie der Trottel beugt.57 So auch ist es in der Gesammtmenschheit : sie duftet aus Einzelnen, die ihr Gehirn u. Auge sind, u. stinkt aus der Masse. Das Schauerliche von heute ist, daß sich der Hintere herausgenommen hat, nicht mehr der Hintere sein zu wollen, als hinge es von seinem Trotz ab, u. nicht vielmehr davon, ob die Natur Gehirnnerven auch in den Hinteren einbaut, was sie dem Menschen zu gefallen doch niemals tun wird. (Sie hat ihre Gründe.) In Wiener Mundart ist: „ich bin nicht zu die Bücher“ stolzer Ausdruck58 eines Menschen, der sich den Gegenständen der Welt zuwendet, Bewußtsein u. Denken weder er- noch verträgt. Die selbe gilt von {7} Völkern: durch geographischer Lage, Klima, Geburt überhaupt sind manche „zu die Bücher,“ manche nicht.

Ein schauerliches Urgesetz ist: der Mensch59 fühlt sich wohl, wenn er sich sein Gedärm erleichtert, hält sich aber die Nase zu u. schimpft, wenn sich ein Anderer das seine erleichtert! Die Prolongationen dieses Urgesetztes sind Inhalt aller Menschenkämpfe: Ein Diebsvolk – oder DiebsMensch, fühlt sich durch den Diebstahl erleichtert, schreit aber: „Unrecht, Gewalt,“ wenn ein Anderer stiehlt. Jegliches Unrecht,60 will Jeder selbst begehen – Gedärmerleichterung –, aber empfindlich bleibt er, wo er leiden soll „Ich sehe immer nur andern u. dich nur, wie du erscheinen willst, aber nicht wie du bist“ (Bonsels|61), ist dennoch eine solche Art: dem sich ein Lastergestank Erleichternden noch damit hineinzuhelfen, daß man Erleichterung für Gehirnduft auslege, ist auch vergeblich. Gewissen, Reue, Einsicht hören auf, wo ein solcher Naturvolk vorliegt.62 Man kommt um das Naturgesetz nicht herum, wie immer man sich dazu stelle. In diesem Zusammenhange sei Ihres Briand nun noch einmal gedacht: Nach Gedärmerleichterung ist auch der Franzose „vernünftig.“ (Nebenbei Br. ist ungebildet, daß er in offener Parlamentssitzung vom Konzil „de trente“ sprach (Trient!?!), sprach, er [der Katholik!]63 der heute vielgenannte Alain spricht zuerst – Gedärmerleichterung – von „einer Republik von jenseits des Rheins“, hernach ist er wirklich trefflich. (Hat so etwas aber Wert?) Voltaire schiebt in Getreide – Gedärmerleichterung –, ist im Übrigen “vernünftig” (nach Goethe, “ohne Tiefe”). Anatole France,64 Loti,65 Claudel,66 Rolland, Barrés|67 sind alle sehr „vernünftig“, aber nach|68 Gedärmerleichterung. Den Nobel-Preis auf der Hand schwört Anatole France seine frühere Religion, den Kommunismus, ab. Claudel ergeht sich in Mysterien, aber seine – Kriegshetze ? Und Loti’s Haß ? Der Vizepräsident der Franz-Lig[u]e f. Menschenrechte, Prof. Basch (Paris)69, erzählt soeben in Berlin u. Wien, {8} die deutschen hätten binnen einem Jahrhundert 3 mal die Franzosen überfallen, so den Bonaparte (!!), Napol. III, u. die Republik. Was heißt das? Der überfallende Franzose fühlt sich immer überfallen, der Überfall als Gedärmerleichterung tut ihm wohl, u. er begreift nicht, weshalb der Deutsche die Nase zuhält, oder besser zuhalten müßte.70

Seitdem wir von der Natur abgewichen, nicht mehr auf Zweigen hüpfen u. von Gras oder dgl. uns nähren, dafür aber in die Künstlichkeit eines Staates eingegangen, ist es ausgeschlossen, daß die Menschheit mit ihr ja fertig wird. Ginge es von einem Mozart, Beethoven ab, einen Staat nach seinem Gefühl für Urgesetze zu – komponieren, dann gienge es, aber die Masse weiß nicht einmal, daß es um eine Künstlichkeit geht, die als solche Fälschungen braucht, geschweige daß sie bei ihrer Unbegabung Mittel fände, zumal heute, wo schon Neger erklären, sie wollten sich selbst regieren, weil sie es auch schon treffe (!?).71 Solange der Mensch den Größenwahn hat, Gott gar nach seinem Ebenbilde zu formen, ihn zu verleugnen, wenn er nicht zu gutem, bequemen [recte: bequemem] Leben verhilft (Religion geht durch Magen-Feiertage), nach der Unsterblichkeit72 verlangt, weil es ihm unerträglich ist, zu denken, er73 könnte mal sein Ende haben, u. was noch sonst an Erscheinungen von Größenwahn gibt, wieder den Weg74 zum Staat nicht finden, denn dieser heißt: Künstlichkeit, also Zwang75 u. Fälschung.

Dazu kommt, daß jeder Mensch irgendwie betrügen muß. Auch im Stoff liegt die Nötigung dazu.76 Die ehrenhafteste Großkaufleute haben mir versichert: „Im Geschäft betrüge ich, aber außerhalb des Geschäftes lüge ich nie.“ Eine Welt von Spinozas zu denken ist unerlaubt, aber schon 1 Wilson, unter Millionen Spinozas würde den Bund beschmutzen u. sprengen.77 Es geht nicht, weil die Natur es gar nicht so haben will. Sie hat dem menschlichen Körper dessen Organen {9} Fallen gestellt, an denen er früher oder später zugrunde geht, so aber auch78 dem Menschheitskörper.

Bin ich darum pessimistisch? Sicher nicht. Im Gegenteil. Ich liebe u. verehre den Willen der Natur bis zum Äußersten meiner eigenen Vernichtung. – Ich glaube nur in die Auslese der Natur, u. nicht an eine ihr auf demokratisch abzutrotzende. – Ich danke Gott, daß er meine hochlieben Eltern mit der Frommheit79 ausgestattet hat, 12 Kinder zu zeugen80 u. um sie alles Ungemach zu tragen. Wenn mein Vater aus Mangel an Jugend,81 dem Gedanken eines sehr berühmten Gelehrten, (den ich selbst gut kannte) eines Freundes von E. Mach,82 eines großen Entdeckers u. heilandsgütigen Menschen, gefolgt wäre, der von Voltaire u. Marx kommend forderte, der Stand sei auch berechtigt,83 Kinder zu töten, um der Lebenden willen, – ich wäre nicht am Leben,84 da ich eins der mittleren Kinder war, u. dafür bliebe ein Abhub, der das Leben gar nicht verdient. Wohin man nur mit einem Mitleid kommt, das doch wieder auf der anderen Seite zur eckelerregendsten Grausamkeit ausarten muß! (Wir wissen es ja heute schon alle, alle, daß das Proletariat kein Mitleid kennt, sohin auch das Mitleid nicht verdient, das ihm gestern entgegengebracht wurde. Gedärmerleichterungsfrage.) – Und als Unsterblichkeit der Sache fasse ich mein einmaliges Leben auf. Nicht mit dem Ewigen um Zeit-Ewigkeit rettzuleben[?], fühle ich das Bedürfnis, ich fühle mich auch schon in der Spanne Zeit „unsterblich,“ als Teil des Ewigen, u. nicht anders als der Wurm, Vogel, Fisch, die ebenfalls seine Wunder sind.

Der Mensch ist so nicht schlecht, nicht gut, nur für die Künstliche Aufgabe unzulänglich, u. größenwahnsinnig vor Gott, Natur u. der Ewigkeit. Trotz Kopernikus gibt er sein antropozentrisches Denken nicht auf u. stolzirt darüber, wie über einer Tuberkulose. Er maßt sich an, der Natur ihre Hauptwaffe, {10} die Vernichtung, zu entreißen, oder wenn sie schon sein muß, denkt er sie lieber dem Andern als sich zu. Das Letztere muß auch bleiben : er oder ich! (Er und ich ist schon Synthese, u. diese wird schon zu zweit nicht – Ehe, Freundschaft –, geschweige zu Millionen erreicht.)85 Verteidige ich aber mit meinem Leben auch die Kunst, so habe ich alle Ursache, nicht zu weichen einem, der eine solche Aufgabe nicht hat.

Zwischen Volk u. Regierung vermag ich nicht zu unterscheiden. Ist Ebert nicht mehr „Volk“, seit er präsidiert,86 u. wird er wieder „Volk“, wenn er vom Amt zurückschritt? Und in einem Staat, in dem Alle mitregieren, als Wähler, Parlamentarier, Beamter u.s.w., gebe es nur eine Regierung87? Wo ist denn aber dies “Volk“ letztere? Hier liegt eine Irrtum88 vor: jede Regierung enttäuscht, Tyrann, Oligarch, Kaiser, Präsident – muß doch jede Regierung auch betrügen, wie der Einzelmensch, es liegt in der Natur der Dinge so! – daher sucht man den Glückseligkeitswahn zunächst durch Entgegensetzung von „Volk“ u. „Regierung“ noch irgendwie zu retten.89

„Französisches“] Daher traue ich auch in Frankreich Volk u. Regierung nicht. Das Volk selbst ist kleinlich, roh, nicht allzu begabt (weil maßlos90 eitel). Die Tat ist dort immer eine – Gedärmerleichterung, nur huscht ihr Wort dort schöner darüber weg. Sogar „die Weise aus Frankfurt“ – so meine ich die Frkf. Ztg im Gegensatz zu Schopenhauer91 – weiß schon ihren „ausgesprochenen klein-bürgerlichen Geist, der im kleinen Rentner seine vollendete Verkürzerung gefunden hat.“ Ein solches humus taugt nicht viel, u. ich lobe mir die deutsche Arbeitsfreude: der Fleiß des deutschen Kaufmanns, Arbeiters sogar ist derselbe, der im deutschen Genie sich als „Schöpfung“ bewährt! Die Westvölker treiben Handel, als daß sie arbeiteten; sie verspotten den d. Fleiß, der etwa Genie-Vorzeichen ist. Nicht allein Revision des {11} Versailles „Vertrags“,92 eine Revision der Westvölker überhaupt täte not. Auch die Weltgeschichte ist falsch geschrieben, nicht nur die Musikgeschichte. – Der berühmte Philolog H. Schuchardt hat gemeint: „Was hat es uns u. den andern genützt, daß wir in ihrer Sprache zu ihnen geredet haben? Damit sie uns kennen lernen, müssen sie unsere Sprache erlernen.“ Dazu ist aber der Frankreicher nicht fähig u. daher wird eine Verständigung niemals gelungen, höchstens daß der deutsche zu jeder Gedärmerleichterung (um Diebstahl des Rheins, Oberschlesiens u.s.w.) entzückt die Nase darbietet! Auch Wollten wir auch mit unserer besseren Art ein Beispiel geben, es hülfe nichts, denn der Franzose fühlt sich im Rechten (s.o. Basch)93 – das ist ja zugleich der tragischer Sinn der vielgenannten Gedärmerleichterung.

„höhere Ebene“] G. Mahler schwärmte für so etwas (der er nämlich selbst der „Star,“ die Spitze war: auch Lenin schwärmt aus demselben Grund für die Ebene). U. doch, hätte ich nicht z.B. d'Andrade94 als „Don Juan“ gehört, niemals hätte ich, trotz Mahler, eine solche Mozart-Vollendung für überhaupt ausführbar gehalten! Und wie der Dramatiker nur auf die höchsten Punkte eines Menschenlebens, der Maler auf solche der Natur achtet, so achte auch ich auf Allem auf die höchsten Möglichkeiten, die allein dem Stand der Kunst anzeigen.95 Und wenn von Frankreich96 die „moralische Führung“ (Cailleux|97) beansprucht wird, von der geistigen nicht zu sprechen, bei so viel Ebene, wüßte ich nicht, weshalb Deutschland bei solchen Spitzen unter die Französische Ebene sich begeben soll. H. Basch stellt entgegen: „Rabelais, Descartes, Molière, Racine, Voltaire, V. Hugo, Pasteur, Bergson, / u. Kant, Hegel, Goethe, Schiller, Mozart, Beethoven, Nietzsche u. Einstein,“ wahrlich man müsste ein O.E. Curtius|98 oder Hofmüller|99 sein (die vor Goethe die Schätzung, aber niemals seine Distanzierung des Franzosentums anzunehmen befahigt sind), seiner {12} muß man sein, um nicht zu begreifen sehen, was man förmlich auf die Wege legen kann., Übrigens, dächte man auch so wie die deutschen Demokraten, dort die „Originalen“ hier (bei den Deutschen) blos die „Vertiefer“ – feine Geniekenner was? –, was nützte auch das? Wie oft denn soll Deutschland Frankreichs „Überlegenheit“ bezahlen, mit Lande, Menschen? Ist nicht schon genug Honorar entrichtet worden? (Werde ich für eine Stunde denn 2-, 3-, 4mal bezahlt?) Wie lange, wie oft noch soll dieses Verhältnis andauern, wiederkehren?100

Er oder ich will die Natur! (Der Franzose fühlt’s, der Deutsche nicht.)101 International? Übernational? Als Lösung? Gäbs wieder eine allgemeine Bindung, wie einstmals das Schriftentum, das Lateintum, dann gienge es eine Weile vielleicht. Zu Gunsten der Idee ganz auslöschte: D. wäre dann als Nation einfach nicht mehr da, aber darum nicht schon das Internationale da!

Ich entsinne mich eines Bildchens in den „fliegenden Blättern“: der Tierfreund. Stand da ein grundgutes Männchen u. geringster freudig über einen — Flohbesuch auf dem Rücken.102 So ein Tierfreund war u. bleibt Deutschland: es grinst freudig über den Besuch von Wanzen, Flöhen u.s.w.; als wäre Gottes Wort (s. T.I 1.28) “und füllet die Erde, u. machet sie euch untertan“103 an diese Tierchen, u. nicht an die Menschen ergangen. (Ein 70-Millionen Volk so feig, so erbärmlich !).–104

So brauche ich nichts zurückzunehmen, wie es heute die Demokraten, Pazifisten, die auf dem Kongreß für Sozialpolitik, ja sogar die Unabhängigen tun müssen.105

Ich lege Ihnen 3 Aufsätzte von Nitti|106 bei, der kein „Germaniak,“ kein „Alldeutscher,“ „Völkischer“ ist; sie dürften Ihnen sonst kaum zugänglich sein. Und daß ich Sie damit aus der Ruhe scheuche, wollen Sie mir zugute halten: ich meine es gut, auch ohne Sie bekehren zu wollen.107

Nun beste Grüße u. Wünsche für Herbst u. Winter
Ir
[ sign’d: ] H Schenker
25. Sept 1922

© In the public domain.
© Transcription Ian Bent & Lee Rothfarb, 2006.

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November 2, 1922

DLA 69.930/11 : 11-2-22

Handwritten letter from Schenker to Halm, dated November 2, 1922

Wien, 2 November 1922

Lieber verehrter Herr Professor Halm!1

Mit bestem Dank sende ich die beiden Hefte „Rp. u. Jgd“ zurück.2 Ich kenne u. besitze derlei Stücke schon seit langem; sie erreichen immer das Gegenteil davon, was der Verfasser unter die Menschen bringen will. Und alle sind sie heute überholt u. entlüftet[3] durch den Vorstoß Dr Wirth’s4 u. der Reichsregierung, die durch ihre Veröffentlichungen vor der ganzen Welt erweisen, daß die Schuld durchaus nicht D. allein trifft, die von russischen u. franz. „Fälschungen“ ohne Schau sprechen. Wenn schon die Jugend in Thür[in]g[en] politisiert werden muß, so wäre, unter dem Motto: Wahrheit ist nicht Haß, gerade von den Dingen zuerst zu sprechen nötig gewesen, die der Verfasser ad calendas graecas vertagt,5 u. nicht vom Zusammenbruch u. Dolchstoß, der in zehnter Reihe steht. In einer würdigeren Form hätte das Ministerium die Lage Deutschlands zwischen Franzosen, Eng., u. Slaven zum Bewußtsein bringen sollen, die Beschaffenheit dieser Völker, die das deutsche aus tiefsten Herzen hassen, die Notwendigkeit, den Taten des Hasses Widerstand zu leisten. Aber der deutsche Demokrat denkt zuerst an sich, seine Stellung, u. verteidigt sie gegen „Umschichtung,“ obwohl er selbst nur durch eine Frucht[?]-Umschichtung emporgekommen ist; daher obige Hefte . . .

{2} Ich spreche so offen zu Ihnen, weil ich Sie als Aristokraten empfinde, mögen Sie auch selbst sich für einen Demokraten halten. Ein Demokrat ist etwas völlig anderes als Sie. Hier einige Kennzeichen.

Vor Allem ist er bestechlich. Die Führergauner wissen ganz genau, was sie tun, wenn sie vor Allem die Löhne erhöhen u. Geld unter die Massen bringen, die käufliche Seele ist gleich mit Geld gewonnen! Selbst ein geistig vorgeschrittener Philharmoniker, auch von Haus aus vermögend, war von der Partei begeistert, als sie die Löhne in der Oper hinaufsetzte, u. es gieng ihm nicht ein, daß das hinaufremunerierte Geld weniger wert wird („Inflation“.) Wenn das Geld die Menschenwürde ausmacht, warum verargt der Dem. dem Fabrikanten, Kapitalisten ihr Geld? Und wie mißbraucht der Führer die unschuldige Seele[corr] des „Volkes,“ wenn er die Gelderhöhung als gebührende Lohn anbietet: muß da nicht sein Opfer glauben, seine Arbeit sei allein die schöpferische? Wo ohnehin der Mensch, je kleiner der er ist, von dem Wenigen, das er leistet, bis an den Rand voll ist, sich u. die Arbeit überschätzt, tritt noch von außen eine Partei, die dem Größenwahn ins Tollster fördert! Was Wunder, daß der Dem. sich für den Alleskönner hält, der nur durch tausend „Wenn“ sich verhindert fühlt: es ist der ewig verhinderte große Staatsmann, Dichter, Entdecker, Ingenieur usw. u. verlangt nach immer unser Geld, um zunächst einmal die angeblichen Hindernisse aus dem Wege zu räumen. Und hier beginnt der Wucher, der Betrug. {3} Der Dem. haßt so seinen wahren Lebensinhalt, u. läßt sich zum Voraus für einen bezahlen, den er nur träumt. Er fühlt sich, durch Geld verführt, zu höherem Berufen u. will die andere Arbeit nicht mehr leisten, u. so zerfällt er mit sich selbst. Das Weib will nicht Kinder, denn sie möchte, – was? komponieren? dichten? entdecken? – sie weiß selbst nicht was, nur keine Kinder; sie träumt von Menschenwürde . . der Arbeiter will nicht arbeiten, was will er aber? – entdecken, dichten? nein, das kann er ja nicht, er will gut bezahlte Menschenwürde ohne Arbeit.

Der Dem. hält „Umschichtung“ für Auslese; Menschenantlitz schon für Würde. Er schämt sich seiner niedrigen Arbeit, begehrt aber Lohn immer für eine höchste. Bei uns erscheint eine Hausgehilfin, u. verlangt den höchsten Lohn: wir gewähren diesen u. zuletzt fragt die Voltaire-Marx-Würdenträgerin: “muß ich auch kochen?“ Eine andere Hausgehilfin schämt sich Brot“aufschnitt“ zu essen, sie fürchtet ihre reine Würde etwas damit zu vergeben. Eine dritte will keine Kartoffeln essen, bei uns nicht, wo meine Frau so wunderbar die Mahlzeiten bereitet, diesselbe Frau, die wie ich Kartoffel ißt u. noch überdies vollkommen gerüstet mir auch geistig zur Seite steht. Eine vierte (aus Leipzig) behauptet, Wilhelm II6 wäre ein Landstreicher geworden, wenn er nicht zufällig Kaiser gewesen wäre. Arme Opfer vor gewissenlosen Schurken, Opfer, denen Arbeit wie Essen schon ganz vereckelt wurden.

{4} Ein Demokr. ist der gerissene amerikanische Banquieur, der als „Philantrop“ reist, der franz. Spitzbube, der den Rhein stehlen geht (u. die Rheinländer so herabsetzt wie H. Darine[?]7 z.B.), der englische „Liberale“,8 den Lujo Brentano (ein radikaler Sozialist!)9 beschuldigt, die[corr] Mäntelchen von Lügen[,] Heuchelei um den Raubzug geschlagen zu haben. Ein Demok. ist mein Verleger,10 trieft mir so von dem international. kosmop. Fett, aber multipliziert in meiner u. meiner Frau Gegenwart mit 4 nachdem er, vor einer Sekunde, die 5 als den Schlüssel angegeben hat, fälscht den Absatz (erwiesen, [illeg. word]), usw., usw.

Wie ein Roß nach dem Huftritt an den Peiniger dennoch ein Roß bleibt, genau so bleibt die Masse Masse auch nach einem Revolutionshuftritt. Der deutsche Dem. will die Masse „entmassen“? Es entesle sich der Esel, entochse sich der Ochse zuvor, dann vielleicht.

All diese Lüge, dieser Betrug kam uns aus dem Westen. Ein märchendichten- der Knabe Goethe, ein komponierender Bach, Mozart, Mendelssohn, Beeth, im Westen? Nie gab es dort ein Wunder, nie wird es Wunder geben.

Sie müssten aus Stein sein, wenn Sie nach der Lektüre des 3. Heftes Tonwille,das einen Haydn bringt,11 nicht wie ich bis ins Innerste erschauern; fragen Sie sich dann ob so etwas im Westen möglich war, ist oder sein wird?

Aber während kein Franzose, Engl., Amerik. den deutschen für etwas mehr als eben einen deutschen nimmt, glaubt der deutsche in jeden Franzosen H. Voltaire zu sprechen, in jedem Droguisten, Tanzlehrer, Jour- {5} nalisten, in jedem Eng. H. Shakspeare selbst, in jedem Amerik. H. Washington, u.s.f. daher diese (J. Paul) Hausknechtsnatur. Und dieses große, herrliche Volk begeht den Widerspruch, für jedes Individuum das „Fürsich“ (Goethe) anzustreben, ein solches „Fürsich“ im Sinne eines Eigenseparaten, würdig in sich ruhenden Nation aber abzulehnen: der Einzelene soll individuell sein; die Gesammtheit aber – keine Individualität!! Dann die Auslandsfutterei ist nichts anderes als eine Minderung des „Fürsich“, eine Zerstörung der Individualität. Goethe, Schiller, die z.B. Racine, Voltaire abzulehnen wissen, mögen auch bei deutschem “Fürsich“ Früchte pflücken, wo sie wollen, aber das ganze Volk macht, das es nicht schöpferisch ist, den Kosmopolitismus zu Unrecht mit, auch mit Unverstand.* [cued from lower margin: * Wozu [illeg. word] auf einen Knochen[?] haben sich da kürzlich 3 oder 4 [illeg. word], u. Übersetzter auf Barbusse [12] gestützt, von dem ich nicht einen Satz noch wirklich geistvoll gefunden hatte. Er spielt den[?] „[illeg. word]“ u. lockt die deutschen Gelder heraus. Clarté macht es ebenso. Wir bezahlen die Kanonen, mit denen Frankreich den Krieg führt.]

Der deutsche Dem. sehnte sich nach Armut, nun hat er sie, u. mag begreifen, daß dem Einzelnen es geziemt, Reichtümer abzulehnen, aber nicht einer Gesammtheit von 60 Mill., denn dann geht Alles zu Grunde. Unser armer Dr. Oppel (Kiel)13 muß bei zahllosen Stunden noch nur Kino spielen!! Und so tausend Beispiele. Niemals aber wird es einem [„]Umschichtler“ gelingen, auch nur soweit es zu bringen, wie[?] Dr Oppel es gebracht hat.

Daher lobe ich nur die Faszisten!14 Weg mit der "Klasse" aus dem Fleisch der Nation, – gedacht,[corr] {6} getan, u. schon sind die Gaunerführer feig entflohen (sie sind ja uns nach Österr. gekommen) u. schon haben sich die Kommunistenverbände aufgelöst, u. schon sind die Arbeiter begeisterte Fascisten geworden! Das Volk jauchzt voll Stolz auf, – in der That Mussolinis Werk: [„]Ich bin Diener Euerer Majestät“, „Ich werde selbst ein Beispiel geben.“ sind wahrer Kaviar für das Volk, u. mehr als alles Demokratentreiben, das um Geduld fleht: “Warten Sie, wir sind in den Anfängen erst, in [ein] paar Generationen wird es besser werden.“

Sagte Marx: die Religion ist Opium für die Völker,’ sage ich: Demokr. ist Opium.

Deutschl. braucht Faszisten, die die Lüge der „Klasse“ vertilgen, jener Fertig-Fresser, denen man Arbeit u. Gelegenheit verschafft, u. die zum Lohn für dieses Schlaraffenleben Alles niedertrampeln. Der gottverlassenste Habsburger hat mehr Kulturwert als die ganze „Lohnerhöhungsmaschinerie“, wie der Führer der öst. Sozdem. selbst die Partei benannte. Durch Geld geht es nicht. Das ital. Volk lebt schöne Tage der Erhebung! Und im deutschen Volk geht noch immer der Dolchstoß um! Seelenmord um Seelenmord! Was habe ich für Dokumente für den Dolchstoß seit 1915 (!), geschweige 1917–1918! [left margin, sideways: Nun Alles endgiltig an die Pflicht des Tages in so trüben Tagen! Helfen Sie der deutschen Jugend aus den Fängen des Westens, der „Klasse“ – Vielen Dank u. beste Grüße Ihres

[ sign’d: ] H Schenker]

© In the public domain.
© Transcription Ian Bent & Lee Rothfarb, 2006.

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April 3, 1924

DLA 69.930/12 : 4-3-24

Handwritten letter from Schenker to Halm, dated April 3, 1924

3. IV. [other hand:] 1924

Lieber, verehrter Herr Professor!

Im Augenblick, da ich die Feder angesetzt habe, kam Ihr zweiter Brief,1 für den ich wie für Alles, was von Ihnen kommt, herzlich danke. Das 6. Heft, das schon im I.1924 fällig war,2 geriet plötzlich[corr] wieder in eine Art Vorstadium: Klischees (schon imprimierte) sind in Verlust geraten, eine [illeg. word] große Tafel zu Schubert mußte umgestochen3 u. vor allem Heft 7 (B’s op. 57 ganz , B’s Brief zu seinem Quartett op. 127, u. das Rezitativ für Alt „Erbarm dich[sic] Gott!“ aus der Mathäuspassion|4 – über mittelbare Anfrage Furtwängler’s) sichergestellt werden. Dazu kam die Notwendigkeit, aus Anlaß der Halbjahrsrechnung dem Diebsgelüste des Verlegers abzuwehren, der, um meine ohnehin sehr bescheidenen Einnahmen aus der Sonaten-Ausg.5 zu kürzen (mehr noch für das Später als für Heute) entgegen den Vertrag, der Zusage, seine alten Ausgaben in ungeheuren Massen auf den Markt geworfen, der in der Rechnung Lügen auftischte, der ein Tantièmenstück von mir ohne mein Wissen seinem Neffen6 zur weiteren kostenlosen Ausbeutung überließ, der einmal als Handlungsgehilfe[corr] Krägen[?]7 verkaufte u. nun als Verleger der „Moderne“ märchenhafte Reich- {2} tümer gesammelt [hat], aber in Form u. Inhalt – trotz den durch langes Haar, langen Bart unterstrichenen kosmopolitschen[corr], demokratischen, internationalen, pazifistischen Deklamationen – der Handlungsgehilfe geblieben ist. Noch ist zur Stunde die Angelegenheit des erwähnten Tantièmenstücks nicht bereinigt, aber nach den vielen aufreibenden Wochen trete ich doch schon in eine bessere Luft.

Ihr erster Brief liegt vor mir u. ich gehe, was mir bei nachzitterenden Weh am leichtestem fällt, Blätter u. Fragen der Reihe nach durch :

Ja. die Figurenkunst8 der sog. Klassiker ist das Um.- u. Auf der Musik überhaupt. So kam es geschichtlich u. wiederum wird auch die Geschichte bestätigen, daß die Ohn-Macht zur Figurenkunst ihr Untergang gewesen. Welche aber ist aber darunter zu verstehen? Brechungen, Fiorituren etwa? Nein. der neuentdeckte „Lineare Kp“9 mit seinem Auf u. Nieder? Welches Kind träfe es nicht ebenso wie Kurth zu sehen, daß diese Notenköpfe (bei Bach) steigen, diese fallen, aber warum nur bis zu dieser Höhe, dieser Tiefe, müssten Kind u. Kurth sagen können. (darüber in Heft 8. Ich weiß daß K. Ihnen gewogen ist, doch weiß ich auch, daß Ihr Wahrheitstrieb auch diese Probe besteht.) Ich meine jene Figurenkunst allein, die auf schmalsten Schulterchen von wenigen Erst. Intervallen ruht, also jenen gewaltigen (Klänge, Stufen, Tonarten tummelnden) Vordergrund, der es Mittel- u. UrGrund kommend, in Allem u. Allem {3} selbst Figur ist vor jeden Erst. Intervallen, – nicht also die Figuren im Vordergrunde, sondern das Ganzen als – Figur! Wo nicht das Ganze Figur ist, klingen alle Figuren blos aufgepappt, wie ein Anfall von einem Ornament, wie Ohrschmuck, Nasenringe. Das Ganze als Figurierung aber ist ein Organismus, Figur ist dann = Synthese, so daß Ganzes, Synthese, Organismus, Figur, Synonyma sind! Wie Menschen, Tiere, Pflanzen Figurierungen von kleinstem Samen sind, so sind die Stücke der Genies Figurierungen von wenigen Intervallen. Vielleicht sind auch die Sterne Figurierungen von wesentlich Einfacherem. Zur kürzesten Formel der Welt drängt alles Religions-Empfinden, alle Philosophie u. Wissenschaft, u. ein ähnlich religiöser Zug läßt mich das Tonstück als „Figurierung“ eines Kernes hören, das also ist die „Figurierungkunst“ unserer Meister, das ist Musik, das allein ist auch die Improvisation!

Wir verstehen uns noch nicht, weil wir dieselben Worte gebrauchen u. dabei Verschiedenes denken. Wäre bei unseren Meistern nicht das Ganze die Figurierung, wir hätten noch keine Musik; Figurierung von Teilen u. Stellen schafft kein Ganzes. Darum meine Ergebenheit für sie, die Sie noch nur irgendwie befremdet[.] Am Klavier zu Hause fragte ich einmal Furtwängler,10 weshalb Beeth. in der Dfg. des 1. Satzes in op. 10911 auf die Höhe [mus. ex: a´´´] (T. 21) zuschreitet u. plötzlich abspringt. Er gestand, daß er an dieser Stelle immer vor einem Rätsel gestanden.12 {4} Ich verwies ihn auf [mus. ex: b´´´] T. 42, aber auch damit wußte er nichts anzufangen. So rollte ich also auf: [ Auftakt mus. ex.] [ 293ff. mus. ex.] Ein Deckton im Auftakt: h1 (über gis1), der füglich wegbleiben könnte, spielt schon eine solche gewaltige Rolle in B’s Phantasie. Man muß schon an die Listen von Einbrechern u. derlei Gesindel denken, sieht man, wie er in der Df. auf gis u. h zunächst einzeln zugeht, dann endlich zu Anfang der Repr. sie koppelt, wie im Auftakt u.s.w. u.s.w. Und doch ist dieser Zug eine letzte Kleinigkeit in der Figurierung des Ganzen! Nachdem ich F. gar viele Figurierungen (in meinen Sinn), darunter auch z.B. BrahmsIII Sinf. zeigte, rief ich aus[corr]: „Ich bin noch viel zu feige gewesen. Ich sagte von unseren Genies noch viel zu wenig, sage noch zu wenig, aber ich will die Feigheit gutmachen.“ Und aus der Ergriffenheit u. Erschütterung sprang unmittelbar ein Lachen hervor bei Furtw. u. den anderen Gästen : daß ich mich feig schalt, machte sie so herzlich lachen. Und doch ist es so!!

Ich sagte zu wenig davon, was diese Meister bedeuten, was Musik ihnen gewesen, was ihre Erleuchtung (eben des Genies) als kürzeste Verbindung von Kern u. Ausfaltung, ihre Spannkraft, Allgegenwart sind.

{5} 4. IV.

– – – Sie führen Ihr Gefühl (gegen B., Br., für Bruckner: “Körperlichkeit, Rasse usw“) an. Gegen Gefühle zu kämpfen, ist nicht meine Sache. Ich dächte, Halm u. Schenker müßten vorerst um Tatsachen der Musiksprache ringen, da die allermeisten noch im völlig Verborgenen einer unermeßlichen Genie-Tiefe liegen. Bestreiten Sie, was ich als Tatsache angebe, dann gibt es einen fruchtbaren Kampf um die Wahrheit, zumindest aber das. Vergessen Sie nicht, lieber Professor Halm, daß Sie in Ihrer[corr] Jugend[corr] sicher auch Beeth. im Herzen getragen haben, vielleicht kehrt dieses „Gefühl“ noch einmal zurück?

– – – Bruckner hab’ich improvisieren gehört.13 Er konnte es aber nicht. Er war zu sehr Vordergrund-Gestalter. Richtiger: er kannte nur eine Dimension, einen Raum von höchstens 20 Takten, auch diesen nur flächig gesehen. Dieser Raum kam ihm nicht aus einer Tiefe, wo Raum an Raum sich schließen, zueinander gehörend, wie die Knochen, Muskeln, Gelenke meines Körpers, er stand ihm für sich. Daher seine Art, jeden Raum mit I. Stufe u. einem Anfang im Niederstreich zu unterstreichen, was aber der Tonsprache sowenig wie der Wortsprache auf die Dauer bekömmlich ist. Sie haben Verantwortung u. daher erzähle ich Ihnen z.B. folgendes:

Bruckner rief mich einmal – in der Klasse – ans Klavier, „horchen Sie, Herr Schenker,“ sagt er, u. spielt nur eine Stelle, die sichtlich {6} eine Steigerung vorstellt. „Meinen Sie, daß das schon genug ist, oder soll ich noch weiter“? Das Vor u. Nachher der Steigerung ließ er mich nicht hören – später konnte ich feststellen, daß es eine in der VII. Sinf. gewesen, die[corr] er in der Arbeit hatte, wie konnte er nur aber um so etwas fragen?14 Wornach hätte der Hörer sich richten können u. wornach hat er selbst sich gerichtet, wenn er so fragen konnte? Lesen Sie Fr. Eckstein’s Erinnerungen an Br.|15 u. die dort mitgeteilten Aufgabenproben, sie gehören in diesem Zustande nicht dem strengen, nicht dem freien Satze, die übliche Dunkelwelt. Hätte ich nicht immerhin schuldigen Respekt vor so vielen herrlichen Tonbildern gehabt u. vor allem vor seiner echten Religiosität, ich hätte in jeder Stunde 60 Minuten durchgelacht, so ganz Unmögliches bot er. Oder: er trug tiefen Schmerz darum, daß ihm den Professur für eigentliche Komposition – er dürfte nur Hm. u. Kp. lehren – vorenthalten wurde;16 jedenfalls gab er sich wirkliche Mühe, die wenigen Schüler bei den Schlußprüfungen in gutem Zustande vorzuführen, in der Erwartung, daß das Direktorium auf die günstigen Ergebnisse sie ihn doch einmal zur Komp-Klasse berufen könnte. Was tat nun aber der gute, arme Br.? Da er wußte, daß Dir. Hellmesberger,17 oder die Professörchen fur Pianoforte oder Violine usw. – die gesammte „Kommission“ – sich nicht gerne in Theorie einläßt, hat er jedem von uns das Fugenthema zum[corr] Voraus gegeben, es mit jedem von uns durchgearbeitet, u. nun kam die Komödie der Prüfung: „Wollen H. Direktor das Thema!! {7} fragte Br., der Direktor beeilte sich: „Bitte, H. Professor, geben Sie selbst eines auf“ Und nun kam Alles, wie es abgekartet war. Eine Bagatelle, aber demjenigen gegenüber, der mir erzählt, er habe Br. wunderbar improvisieren gehört, bringe ich Mißtrauen entgegen, denn Br. konnte sie die Impr. sehr wohl vorbereitet haben. So oder so, unter Improvisation verstehe ich mehr, die Figurierung eines tiefempfundenen Kernes, der – nach Art der Samenfäden – mit unerklärlicher Gewalt sich den Weg bahnt. – Ich sah [cued to lower margin: wirklich war mehr zu sehen als zu hören.] auch Br.’s ersten Einfall zur IX Sinf.. Er kam hochrot in die Klasse – 6h Abds – u. schrie u. schrie: ‚Jetzt hob’ ich das Thema zu einer neuen Sinf.“, lief zum Klavier u. Tobte immer wieder dieselben paar Takte, lief aus dem Klassenzimmer in ein benachbartes, wo Prof. Schenner,18 einer seiner eifrigsten Anhänger, den Klavierunterricht leitete, brachte ihn in unsere Klasse u. spielte ihm immer wieder dieselben paar Takte vor. – darüber, wie er seine Figuren auf den Klang mit Mühe abstimmte, glaube ich Ihnen schon einmal geschrieben zu haben. Ob er in allen Manuscripten es so hält, weiß ich nicht; ich habe seither keines mehr gesehen.

– – – Auf Reger komme ich zurück. Von vielen Seiten werde ich gebeten, aufzuzeigen, was mir an R. fehlerhaft erscheint. Aber {8} mit dieser Ungeduld Schritt zu halten, ist weder sachlich erlaubt noch auch technisch möglich. Wie leide ich darunter, daß der IV. Bd, der Hauptband, der freie Satz, noch nicht draußen ist, wie umständlich muß ich mich im „TW“ behelfen, u. doch um wieviel besser ists geworden, seitdem I, II1, II2 draußen sind! Ferner: würde ich blos gegen das, was ich Fehler nenne, stürmen, worauf wollte ich meine Beweise stützen, da Niemand wüßte, wovon ich überhaupt spreche! Und auch das noch: Glauben Sie, daß mein Verleger die Herabsetzung seiner Ware verträgt? Haben denn Sie eine Ahnung, welches Martyrium Heft 1–6 gelitten haben, wie der Verleger aus Angst vor mir, entgegen dem Verlag u. sonstigen unendlichen Zusicherungen, selbst die Hefte hintertreiben? Wie oft wurde ich von reichsdeutschen Musikern auf die vielen Schäden19 aufmerksam gemacht, die der Verlag mir bewußt zufügt. Furtw. u. viele Andere äußerten sich oft dahin, daß Dir. H. die Schlinge der Verträge eigens gelegt hat, damit er mich für sein Geschäft unschädlich macht. Wir sollten heute schon beim 20ten Heft (u. daruber hinaus) sein, – sehen Sie, wo ich bin. Was sich soeben zugetragen, mahnt mich zur äußersten Vorsicht erst recht: ich kann nur Stoffe bringen, die durch die Verschleppungstaktik nicht leiden könne. Ich werde mich hüten, die Kleinen Prl. von Bach, die Sonaten von Beeth. fortzusetzen,20 da ich durch den Verlag gehindert bin, sie zur Wirksamkeit zu bringen; nur rasch geschlossen, dann sogar zusammengeschlossen (der Vertrag stipuliert Monographien|21) tun sie die schuldige Wirkung. Der junge Reger, der junge Strauss, die die „U.E.“ von {9} Aibl, München, gekauft hat, sind ja die Haupteinnahmsquelle, die er sich nicht verstopfen läßt. Für Bruckner, Mahler hat er soviel wie nichts gezahlt, für Reger u. Strauss nur paar Mark, das sind – Geschäfte! billig eingekauft, umsonst erworben, nur teuer verkauft, wie schwelgen da die Herzen der Juden Hertzka, Kalmus u. Bruder usw!22 Jede Zeile ist mit Blut erkauft, die Sie im „TW“ lesen. Und doch, ich werde auf Reger bald kommen. Ich plante schon in H. 8: Moz: Son. Ad. Thema u. Var., – Brahms’ Händelvariat. u. Reger: Bach Var.,23 wird aber Heft 7 verschleppt, dann muß ich den Stoff anderes halten.24 Ja, ich hätte mich längst entschlossen, auf meine 20% zu Gunsten des Verlags zu verzichten, aber selbst dann wurde dieser nicht rascher drucken, weil der Inhalt seinem Interesse entgegensteht. Glauben denn Sie, daß z.B. Ihr Zwissler|25 auch nur die Kl. Prael. drucken wollte – das Büchelchen hätte 50–60 Seiten mit Url-Tfl –, auch wenn ich es ihm schenken wollte, wo der Stich u. Druck höchstens 5 Mill. unserer Kronen kostet? Ich habe entsetzliche Schwierigkeiten, von denen meine Leser keine Ahnung haben.

– – – – Ein Übergang? Eine historische Notwendigkeit?26 Nichts von beiden. Ein Rückgang, ein Zusammenbruch, aus Unvermögen zur Figurierung des Ganzen u. der Teile. Wo Kunst u. Leben Verschiedenes bedeuten, wird heute geschrieben wie gelebt. Man „darf“ das Leben leben, wie es {10} Einem paßt, ausrutscht; aber die Kunst duldet kein Ausrutschen. Richtiger: die Künstler rutschen aus, wollen es aber nicht wahrhaben; sie berufen sich darauf, daß Niemenden das Recht zusteht, Verbote zu erlassen, folglich . . . das ist aber der Standpunkt des Lebens, das nichts verbietet; dagegen verbietet die Kunst, auch wenn ihr nicht zum Mund eine Tafel heraushäng27: “das darfst du nicht.“28

– – – Eine öffentliche Aussprache29 zwischen uns beiden würde uns nur Zeit.- u. Arbeitsverlust bringen. In der Musik haben es die Zuhörer noch nicht soweit gebracht, daß wir sie als Instanz annehmen könnten. Vor kurzem hätte ich in einem Hamburger Haus einen ungezwungenen Vortrag vom Klavier weg vor Gästen des Hauses halten sollten, der mir ein sehr hübsches Geld eingetragen hätte, – ich habe verzichtet, weil ich noch keinen Weg zu den Hörern sah. Es hätten sich die Hamburger Musiker auch eingefunden, u. die hätten ihren Widerstand schon von Berufswegen mitgebracht, da sie sich meistens in ihrem Erwerb betroffen fühlen. Auch ist es nicht nötig, daß ich Ihre oder Oppel’s Komp. zum Gegenstand meiner Beweisführung mache. Vielleicht gewinne ich so viel Muße, Ihnen einen eigenen Brief über Ihre Komp. zusammenzustellen u. die Stellen namhaft zu machen usw. Wär’ nur erst die Bahn des „TW“ etwas ebener, verlöre ich nur weniger Zeit um[corr] die Widerstände! Jedenfalls aber werde ich bald Ihnen im TW. Rede u. Antwort stehen {11} wegen einiger Misverständnisse, die ich in Bezug auf mich Ihren letzteingelangten Werken entnehme, Sie dürfen es erwarten, daß der Eifer zur Kunst u. zur Wahrheit mir sicher die beste Form hiefür eingebenwegen wird. Dann, wie immer uns noch dies u. jenes trennen mag, wir leben beide reinen Herzens u. guter Absicht, ehrlich vor uns u. den Anderen: wie könnte es sein, daß ich Sie nicht welch wegen solcher seltenen Eigenschaften ehrlich schätze[corr], daß wir wider einander xxx ringten, statt für die Kunst mit womöglich vereinten Kräften?

– – – Zum Quartett30 werde ich Einiges in den besonderen Brief vorbringen. Senden Sie, bitte, die Stimmen ein, es wäre möglich, daß ein Quartett hier es zunächst einmal durchprobt.

– – “Von Gränzen u. Ländern der Musik”31 kenne ich nicht. Wenn es möglich ist, lassen Sie mir auch dieses Werk zukommen. Sie erhalten durch die „U.E.“ „op. 101“. Vielen, vielen Dank.

– – – Zum Schluß noch ein Wörtchen: Es ist nicht unmöglich, daß ich Ihnen für Ihre Zwecke einen Beitrag schicken könnte. Es wäre nur zu wünschen, daß unser Geld (das ja heute im Inlande abbröckelt) sich nicht noch mehr verschlechtert. Jedenfalls werde ich Sie zur gegebenen Stunde anfragen, ob Ihnen der Beitrag willkommen ist. Er wäre doppelt so groß gewesen, wenn nicht inzwischen das Kronen-Katastrophe gekommen wäre. {12} Nun aber Schluß. Schüler, „TW,“ IV Bd usw schreien nach mir.

Mit herzlichsten Grüßen an Sie
Ihr
[ sign’d: ] H Schenker

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© Transcription Ian Bent & Lee Rothfarb, 2006.

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October 12, 1924

DLA 69.930/13 (Excpt) : 10-6-24

Handwritten letter from Schenker to Halm, dated October 6, 1924 (Excerpt)

. . .

(para. 2)
In der gewissen anderen Angelegenheit habe ich noch zu berichten: Zu meiner Überraschung hat sich der Verein, der eigentliche Erbe nach meiner langjährigen Schülerin, sich aufgelöst u. das gewisse Geld an die hiesige Akademie als Stiftung unter dem ihrem Namen übertragen mit dem ausdrücklichen Zusatz, daß ich bis an mein Lebensende allein über die Versendung zu entscheiden habe. Entweder aber ließ es der Verein oder sein Anwalt an der nötigen Genauigkeit fehlen, kurz, es wurde mir ein Brief von Hofrat Marx, dem Direktor der Akademie, vorgelegt, worin er sich verpflichtet, mir jährlich einen Terna-Vorschlag zu erstatten u. die endgültige Entscheidung zu überlassen. Das ist gewiß nicht das, was die Erblasserin meinte. Ich schrieb dem Anwalt aus Galtür, er aber verwies {3} mich auf eine persönliche Austragung mit Marx. (Woraus ich schließen muß, daß letzterer in völliger Unschuld die Idee vom Terna. Vorschlag hineinbrachte.) Da augenblicklich der Direktor gewiß viel zu tun hat – erste Wochen eines neuen Schuljahres –, so will ich gegen Mitte oder Ende d. M. die Angelegenheit bereinigen. Wenn er auf den Vorschlag verzichtet, dann verfüge ich allein über die Zinsen, ohne Jemand Rechenschaft zu legen (so war es gemeint). Ich kann dann auch in Anbetracht dessen, daß der Wert des Geldes gesunken ist, an denselben Künstler mehrere Jahre hintereinander die Zinsen schicken, ohne daß dies Jemand zu wissen braucht. Überhaupt bestand die Erblasserin auf äußersten discretion, da sie wußte, was ich vorhabe. Das Ergebnis meiner Unterredung will ich dann mitteilen.

. . .

© In the public domain.
© Transcription Ian Bent & Lee Rothfarb 2006.

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January 22, 1927

DLA 69.930/14 : 1-22-27

Handwritten postcard from Schenker to Halm, dated January 22, 1927

{recto}
Postkarte

[Absender:] Schenker
Wien, III
Keilgasse 8

[An:] H [/] Prof. A. Halm
Wickersdorf
b. Saalfeld a/d Saale
Deutschland

[postmark:] || WIEN 49 | 24. I[?].27 9 | [illeg.] ||

{verso}
Lieber, verehrter Herr Professor Halm !

Für Ihr neues Buch vielen Dank!1 Wegen der Korrekturen des Jb. II2 konnte ich nur einen flüchtigen Blick hineintun, werde aber, nach getaner Pflicht, umso genauer lesen. So oft ich von Ihnen eine Arbeit sehe, überkommt mich das Gefühl, daß wir beide uns, trotz allem, sehr gut zusammenfänden, wenn wir nur erst zueinander sprechen (statt schreiben) könnten. Doch, ich hoffe bald auf Ihr Buch zurückzukommen, dann sage ich mehr.

Beste Grüße
Ihr
[ sign’d: ] H Schenker
22. 1. 27

© In the public domain.
© Transcription Ian Bent & Lee Rothfard, 2006.

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July 11, 1927

DLA 69.930/15 : 7-11-27

Handwritten letter from Schenker to Halm, dated July 11, 1927

Galtür, Tirol
11. 7. 27

Verehrtester u. lieber Herr Professor Halm!

Hier, in Tirol, komme ich erst dazu, Ihnen für Ihren „Beethoven1 herzlichst zu danken u. Ihnen zur Gewinnung von Hesse’s Verlag u. der [Deutschen] Buchgemeinschaft2 Glück zu wünschen: nun kann es Ihnen an einer Verbreitung Ihrer Gedanken nicht fehlen.

Auch Ihr Beethoven-Buch gibt mir Gelegenheit zu sagen, daß die zwischen uns beiden waltenden Misverständnisse sicher behebbar sind, daß es in einem gewissen Sinne schade ist, wenn wir nicht ganz zusammengehen. Vielleicht schafft hierin der „freie Satz“3 einigen Wandel, der nun an die Reihe kommt. Vorläufig kommt noch das Jb.II (spätestens Oktober), womit ich den „Tonw.“ abschließe,4 um ganz Herr der Zeit u. meiner {2} Arbeitskräfte zu sein. Es fügt sich seltsam, daß mein Jb. II die erste C-moll Fuge des “Wohlt. Kl.“ ebenfalls bringt u. zw. als Beleg für das Organische auch in der Fugenform.5 Gegen Jöhde’s,6 Werker’s,7 Graeser’s8 Bach Unternehmungen dürfte die kleine Abhandlung zunächst vielleicht wenig ausrichten, aber wenn es einem Bach so schlecht mit diesen Unmenschen geht, warum sollte ich es besser haben wollen? Noch vor 4–5 Jahren hätte ich einen solchen Bach-Verfall nicht anzunehmen gewagt, obwohl ich seit 30 Jahren auch i. meine Leser auf das Schlimmste gefaßt mache.

Nur wenn Schönberg eine Gegenäußerung wagt, würde ich ein kleines Schriftchen zur Aufrechterhaltung des in Jhb. II gegen ihn Vorgebrachten herausgeben. Sonst bleibe ich beim „fr. Satz“ u. setzte nun das Werk ohne Einschaltung bis ans Ende {3} fort.

An der Beeth.feier in Wien9 habe ich mich gar nicht beteiligt, sie war zu sehr auf Romain-Rolland|10, Casals|11 usw. gestellt, um von Herriot12 u. Kollegen nicht zu sprechen. An Titeln u. hohen Auszeichnungen bin ich ausgewichen u. ich habe nur für den „General-Anzeiger für Bonn u. Umgegend[corr]“ einen kleinen Aufsatz geschrieben unter dem Titel „B. u. seine Nachfahren.“13

Hindemith schrieb mir Gutgemeintes, ich erwiderte mit Gutgemeintem,14 nur – es geht jetzt in der Musik u. in der Musikliteratur zu, wie in einer echten Tragoedie: ein Jeder will u. kann, wie er muß, Alle sind gegen Alle, Jeder gegen Jeden u. das gibt einen tragischen Ausgang: die Musik geht ab.

Desto besser für Sie, wenn Sie besseres {4} erwarten, ich bleibe dabei, daß man der[?] Tonkunst noch gar nicht in die Augen gesehen hat, obwohl sie sie so schön geöffnet hat.

Lassen Sie, bitte, bald von sich hören u. seien Sie aufs beste gegrüßt

von Ihrem
[ sign’d: ] H Schenker

© In the public domain.
© Transcription Ian Bent & Lee Rothfarb, 2006.

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November 21, 1927

DLA 69.930/16 : 11-21-27

Handwritten postcard from Schenker to Halm, dated November 21, 1927

{recto}
Postkarte

Absender: Schenker
Wien
III, Keilgasse [/] 8

[An:] H [/] Prof. August Halm
Wickersdorf
b/ Saalfeld-Saale
Deutschland

[postmark (smudged):] || [?] WIEN [?] | 21. [illeg] 8 | * R * ||

{verso}

Vereh[rte]ster u. lieber Herr Prof. Halm!

Es hat sich ereignet, daß mein Jb II|1 an eine gewisse Stelle nicht angekommen ist, daher frage ich Sie der Vorsicht halber: Haben Sie das Ihrige Exemplar erhalten oder nicht? Ein Wörtchen erbeten! Ihre Noten habe ich erhalten, vielen, vielen Dank;2 ich verfolge darin jedes Paketchen, wie übrigens in allen Ihren Kompositionen. Besten Dank zum Voraus

u. herzlichste Grüße
[ sign’d: ] H Schenker
21. 11. 27

© In the public domain.
© Transcription Ian Bent & Lee Rothfarb, 2006.

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