Handwritten letter from Halm to Schenker, dated February 1–6, 1924
[written in upper left corner: Erschrecken Sie nicht vor dem langen Brief, nichts darin hat Eile!]
1.–6. II. 24
Lieber und verehrter Herr Professor!
Mit grossem Dank würde ich Ihre Beethoven-Ausgabe annehmen. Ich besitze davon die zuerst herausgegebenen Sonaten op. 109, 110, 111; sonst keine. Die 2. Aufl.des Kulturbuchs u. des Bruckner-buchs sende ich Ihnen als Drucksache. Sie schreiben mir doch noch, was Sie von meiner Kammermusik schon haben, u. ob Ihnen an den Stimmen zu dem A-dur-Quartett gelegen ist. Die Hefte Tonwille wurden mir bisher immer vom Verlag zugesandt.
Das Improvisieren als Grund u. Trieb des Schaffens ist mir schon lang wichtig gewesen u. Ihre verschiedenen Ausführungen u. Bermerkungen nach dieser Richtung haben diese Einsicht bestärkt u. erhellt; auch das Bewußtsein, daß es mir hierin fehlt u. daß man das auch meiner Musik anspüren müßte, hat mir nicht gemangelt. Ich habe auch mit der Zeit da einiges gelernt u. manchmal auch so improvisieren können, daß ich selbst dachte, daß man es anhören kann. Andere dachten schon besser darüber u. meinten, es sei irgend ein fertig komponiertes Stück "von wem"! Aber ich weiß selbst besser Bescheid darum. Neulich habe ich (das zweitemal in meinem Leben) eine Fuge so improvisiert, so daß ich leidlich zufrieden war. Was mir zu anfang fehlte u. ich erst mühsam erwerben mußte, ist das gute Figurenwerk, u. es sollte mich nicht wundern, wenn das immer noch nicht auf der {2} Höhe wäre. Aber, aber lieber Herr Professor, ich hatte schon zu Anfang Schwierigkeiten mit meinen Vorbildern; teils verstand ich sie nicht u. unterschätzte deshalb ihre Figurenkunst, [written vertically in the left margin: teils ist sie mir auch jetzt noch nicht überzeugend,] teils vermißte ich das, was Figurenkunst erschwert, u. suchte das selbst—noch heute bin ich mit den Klassikern nicht im Reinen; ich kann sagen, daß ich sie immer mehr bewundern gelernt habe (sehr auch durch Sie!), u. daß sie mir deshalb doch nicht wahrscheinlich näher (oder ich ihnen) kommen. Beethovens V. Sÿmphonie habe ich schon geradezu gehaßt—nein, aber als Feind empfunden heut ist sie mir völlig fremd, u. wenn zehnmal stimmt, was Sie über sie sagen—meinetwegen, ich bin bereit, (u. war es immer) sie genial zu finden. Sehen Sie, ich habe einfach das Bedürfnis nach einer gewissen Lebenshaltung, Rasse der Musik, Körperlichkeit, die sich für mein Empfinden vor allem in der dÿnamischen Rhythmik ausdrückt—alle Künste, ja auch alle Kunst der Stimmführung ersetzen mir nicht, was ich hier vermiße, befreunde mich nicht, wenn mich hier was abstößt. Diese Körperlichkeit suche ich in meiner Musik zu verwirklichen, u. bin ihr, nach meinem eigenen Urteil, so nahe gekommen, daß man sie sehen, mitfühlen kann. {3} Das ist mir vor allem wichtig. Mängel der einzelnen Gestalten suche ich zu vermeiden, oder zu heilen—manches mag auch dem Tÿpus selbst anhaften, also unvermeidlich sein; das ist nicht immer leicht zu entscheiden. Ich bin, glaube ich, größter Aufrichtigkeit meinen Werken gegenüber fähig, u. ebenso, Aufrichtigkeit von anderer Seite zu schätzen, auch wenn es gegen meine Musik lautet. Meine musikalische Begabung schätze ich vorsichtig ein; einfachste Dinge sind mir manchmal so schwer geworden zu finden, daß ich mich kaum über dem guten Durchschnitt seh[e] (zu Zeiten war es ja auch wieder besser damit bestellt). Meine künstlerische, produktive Veranlagung dagegen—an die glaube ich einfach, u. seit langem schon ohne Wanken. Oder ich glaube an das Bild von Musik, dem ich nachstrebe—nicht glaube ich, um ein Beispiel zu nennen, an das von Brahms erstrebte sei es nun daß dieser es vollkommen oder unvollkommen dargestellt hat (Ich bin dieser Frage auch noch nicht nachgegangen. Ein Anfang wie der seiner F-dur Symphonie, F-moll sonate, genügt, um mich ganz zu befremden; sein Requiem ist mir zu einem großen Teil fast peinigend, zum teil unerträglich.)
{4} Daß Sie Brahms so hoch stellen, hatte mir zuerst einen ziemlich empfindlichen Stoß gegeben, u. auch heute noch denke ich: sollten Sie vielleicht in diesem Punkt u. nur die natura naturata, nicht aber die natura naturans sehen? Zugegeben daß ich die erstere hier ungenügend, im Vergleich zu Ihnen sogar ganz ungenügend sehe—warum aber kenne ich Brahms so ungenügend? weil er mich nicht auffordert, ihn nachzugehen. Beethoven, mir neulich ganz fremd geworden, läßt mich doch nie los, gehört zu meinem Gewissen, ist mir als Massgebend noch wichtiger als etwa Mozart, war mir oft ein mahnendes (sozusagen mein böses) Gewissen. Es kann braucht also doch nicht blosse Beschränktheit, Befangenheit von eigenem Bild zu sein, wenn ich irgendwo nicht anpacken will, wollen kann. Bruckners Musikbild ist ja auch ein sehr anderes als meines (u. ich halte es für ein wesentlich höheres als das meine!) [Übrigens: Sie haben ja vielleicht auch Bruckners Improvisationen auf der Orgel gehört, die so hoch gerühmt wurden. Ich möchte gern wissen, ob Sie diese auch so hoch stellen, gerade seine Fugen-Improvisationen, ich meine nach der technischen Seite. Nicht als ob ich ihm da nicht Gutes u. sehr Gutes zutraute, aber den Berichterstattern traue ich nicht u. möchte deshalb jemand fragen können, dem ich Zutrauen schenke.] Damit bin ich nun bei der bösen Akkordfolge, noch mehr Modulationsfolge [written vertically in the left margin: (was beides ich nämlich bei Bruckner am schönsten u. edelsten erfüllt sehe)] {5} angelangt. Sie ist, selbständig, eigenmächtig, eigensüchtig geworden, Gefahr, u. hat auch Edeles zerstört, hat richtige Verdummung in die Musik gebracht (Regers Musik kann ich im ganzen [written vertically in the left margin: (ich kenne aber nur sehr wenig von ihm)] nicht anders als dumm nennen—aber hätte er sich, wäre er in eine andere Zeit geraten, nicht irgend eine andere Dummheit ausgesucht, hätte er nicht etwas anderes Gutes verdummt? ist er ein Opfer der Akkordfolge, u. nicht vielmehr eben seiner Unintelligenz?) Ich kenne leider aus Erfahrung an anderen u. auch an mir selbst das wüste Improvisieren, bei dem, durch sinnloses Aneinanderreihen von (sei es auch schönen) Folgen eine Art von Froschlaich entsteht, u. leider schreiben viele auch so. Die Frage ist, ob diese geschichtliche Notwendigkeit einen Übergang bedeuten kann, ob diese Kräfte, die da ans Licht drängten, überwunden, verwertet, gehoben werden können—einfach ausschalten, ignorieren geht nicht an, u. auch auf die Finger klopfen hilft nicht viel—"soweit darfst, soweit darfst du nicht." Ich bin sehr für klarste Bilanz; man soll wissen was man anrichtet, wo man fehlt, sei es notwendig, sei es vermiedlich. Und wenn wir uns sprechen könnten, so würde ich Sie sehr bitten, mir genau einzelne Stellen als Beispiele dafür, {6} wo u. wie ich versage, anzugeben. Schriftlich ist das zu umständlich, als daß ich Sie darum bitten möchte. Dagegen mache ich einen Vorschlag: wollen Sie nicht einmal in einem Aufsatz in den Tonwille-Heften, wenn Sie bei mir (oder bei Oppel oder sonstwo) ein besonders instruktives Beispiel für Versagen, Durchlöcherung, Brüchigkeit, eine Stelle, bei der man sagen kann: hier offenbart sich das Nicht-Genie—wenn Sie solches finden, eine solche Stelle besprechen? Gerade bei einer Musik, die sonst nahe an gute herankommt, oder sonst gut wäre, möchte das besonders aufschlußreich sein. Sie werden diesen Wunsch nicht mißverstehen, so etwa als ob ich wenigstens einen öffentlichen Tadel einheimsen wolle, wenn ich schon kein öffentliches Lob ernte. Ich glaube nicht, daß ich jeden Tadel annehmen, d.h. verwerten kann, auch wenn er mich überzeugt. Wie viel habe ich schon an den großen Meistern angreifbar gefunden, ohne daß ich deshalb dachte, es sei eine Korrektur möglich. Wo ich mirs zutraue, besseres zu finden, versuche ichs; ich habe neulich die erste Fuge meines ersten Klavierhefts, {7} daran teils ungeschickter teils schlechter Kontrapunkt mir schon lang auf der Seele lag, fast ganz neu gearbeitet, ob mit gutem Gelingen, will ich jetzt noch nicht entscheiden. Mein Vorschlag ist nur ganz ernst, u. wenn Sie auch meinen, daß Sie hiemit größere Klarheit auch für andere schaffen, [written inverted in the top margin: (das müßte doch viel besser sein als wenn Sie offenkundig Nichtiges als Gegensatz erwähnen),] so möchte ich jedenfalls erklären, daß ein Tadel von Ihnen mir jedenfalls ernster Erwägung wert ist, daß meine Schätzung Ihres Werks durch Ihre bedingte Anerkennung u. auch durch stärkere Ablehnung meiner Musik nicht getrübt würde (das spielte gewiß für mich eine weit geringere Rolle als Ihre Zweifel an Bruckner, Ihr Nicht-Zweifeln an Brahms u. ähnliches.), u. daß ich persönlich fast gleichgültig dagegen bin, ob meiner Musik das Prädikat genial oder nicht genial zukommt, vielleicht sogar ganz gleichgültig. Was ich wünsche ist nur daß sie gekannt u. gespielt wird, damit sie wenigstens einmal ihre Kraft, ihre Wertungsmöglichkeit erproben kann, ich denke da nicht an Wirkung "auf," sondern an die Einwirkung des Bilds, sozusagen Zeugungskraft der Idee, aus der diese Musik stammt. Wenn ich aber nun, wie ich durchaus annehme, {8} Ihnen meine eigene Musik sehr zu überschätzen scheine, so ist es vielleicht umgekehrt möglich, daß das Ihre Sympathie für mich trübt. Darauf muß ichs nun ankommen lassen, d.h. gerade nach Ihren Äußerungen müßte ich Farbe bekennen [written vertically in left margin: (ich habe noch nicht einmal alles gesagt, aber wohl immerhin schon genug),] denn Ihre mir so wertvolle Teilnahme darf nicht auf einer Täuschung beruhen. Es wäre sogar vielleicht jetzt an der Zeit u. könnte wirklich von Wert sein, wenn wir einmal öffentlich einen Kampf* [written between end of letter and post script: (* aber nicht um meine Musik!)] ausföchten—aber ich will nicht mehr schriftstellern, wenn ich nicht gerade muß.)
Herzlich grüße ich Sie,
Ihr
[ sign’d: ] A. Halm
Ja, ich hätte viel auf dem Herzen gegen Sie u. es könnte mich wirklich noch einer Fehde gelüsten, in der einmal zwei Gegner miteinander das Rechte suchen wollen, nicht aber Recht behalten wollen. Sie besprechen einmal den Anfangsakkord des Scherzos der 9. Bruckner-Sÿmphonie. Warum blicken Sie da nicht auch ins Weitere? Im 35. Takt erscheint er wieder in seiner 2. Umkehrung— {9} (wie fein ist die 1. Umk. umgangen, unkenntlich gemacht!)—alles dazwischenliegende ist Durchgang,[written in top margin: u. alles zusammengehalten durch den fest bleibenden Leitton cis]—ähnlicher (für mich aber schönerer) Fall wie im Anfang der C-mollsonata, op. 111. Und wieviel Feinheiten in der harmon. Rhythmik, dann noch die Komplikation der 2. Umkehrung mit scheinbarer [corr.] [music example] Erinnerung an die noch stark im Gedächtnis stehende Rückung gegen den Schluß des ersten Satzes Es-moll D-moll Akkord, u. den immer wieder sich aufzwingenden Esdur Akkord unmittelbar vor dem letzten Dmoll des ersten Satzes.
Noch eine Frage: Mein Buch “Von Gränzen u. Ländern der Musik” (es sind gesammelte Aufsätze, unter diesem, wie mir zuverlässige Leute sagen, sehr unglücklichen Titel—ich wollte damit nur ausdrücken, daß ich mich auch auf die Peripherie u. zum Teil auch außer sie begeben habe). Kennen Sie anscheinend nicht. Ich habe Sie einmal auf eine Abhandlung Stelle über die merkwürdigen sforzato (die für den ersten Blick an falscher Stelle stehen) im Finale der Dmoll Sonata op. 31 hingewiesen. Oder haben Sie das Buch doch? Ich besitze kein Exemplar mehr, würde aber m. Verleger veranlassen es Ihnen zu senden. Über manches darin werden Sie sich ja wohl ärgern müssen.
{10} Brahms: Sie werden mich noch nicht ohne weiteres für blind u. taub halten. Wie gern bewundere ich die erste tonartlich Exposition im Cmoll Quartett. Aber die Geste des Themas! Nein, u. zehnmal nein. Und kein Bißchen Ja dabei. Die Geste*, die Geste; die mangelnde Körperlichkeit! Sie* ist mir bei Beethoven auch häufig feindlich—aber doch auch da überzeugend, naturhaft, "wie seiend"!
Dann noch eine Bitte: lesen Sie in dem Brucknerbuch (auch wenn Sie die 1. Auflage schon kennen) zuerst die Analyse S. 147 usw., die ich erheblich verbessert habe. Dann den ebenfalls verbesserten Abschnitt S. 173 usw., dann das Nachwort (S. 242).
Der Brief hat nun schon seinen ungeordneten Tagebuchcharakter; ich will also noch einen Punkt betrachten. Sehen Sie, fast alle unsere grossen Meister konnten nicht geigen, u. ich spüre das. Mozart konnte auch geigen, wahrscheinlich konnte er viel, Haydn vermutlich desgleichen—aber "im Nebenamt" beide. Beethoven konnte kaum geigen (ich weiß schon, ich weiß schon). Händel konnte, ja, aber Bach allein konnte wirklich {11} geigen, von ganzem Herzen u. Geblüt. Ich bin überzeugt, daß er selbst seine Solosonaten mit Genuß u. mit Überlegenheit sich selbst gespielt hat. Sollte ich mich da täuschen, so ists nicht von größter Wichtigkeit: jedenfalls sind diese Sonaten so aus dem Griff der Geige geboren, wie sonst nichts in der ganzen Literatur. Bach allein fühlte (außer dem was die andern auch fühlten) die jugendliche Schnellkraft, die Quellkraft des Geigentons (am nächsten, aber noch in sehr sehr großem Abstand von ihm fernbleibend kommt ihm da, wie mir scheint, Haÿdn. [Beiläufig gesagt, es ist mir ein grosser Trost, daß Sie oft u. mit so viel Liebe von Haydn sprechen, ich wünschte manchmal über ihn zu schreiben, das gehört zu den Dingen die ich mir versage.] Wenn Sie vom Improvisieren sprechen, denken Sie vermutlich ans Klavier oder etwa die Orgel. Wenn ich auf dem Klavier improvisierte, so war ich, wie gesagt, meistens unzufrieden mit mir; aber geradezu kläglich kam ich mir vor, wenn ichs auf der Geige versuchte (auch damit ists besser geworden, aber das Verhältnis des einen zum anderen gab mir sehr zu denken). Haben Sie schon bemerkt, daß die Geiger, wenn sie ein Instrument {12} probieren, fast ausnahmslos (mir ist meines Erinnerns noch keine Ausnahme begegnet) in Moll "fantasieren"? Daß es meistens Dmoll ist, hat technischen Grund, weil sie den Quartschritt a-d so schön auf der G-Seite schleifen können (oder noch schöner a-cis mit dem 1. Finger); aber daß es Moll ist: ja, weil ihnen keine Melodik zu gebot steht, deshalb wird Pathos u. Tragik vor die Leere vorgeschüft. wird. Die Geige ist der strengste Prüfstein für melodisches Gold. Anders gesehen: glauben Sie ernstlich, daß Beethoven, ja auch Mozart, eine ganze Sonate für Geige allein hätte schreiben können? Ich nicht; ich glaube sogar positiv, daß sie es nicht hätten können—es sei denn nach vorhergegangener Bußübung, ja auch sogar erst nach einer ausgesprochenen μετάνοια. Damit es keinen Irrtum gibt: meine Sonaten für Geige allein sind kleine, bescheidene Musik, wollen durchaus nicht konkurrieren; die von Reger, soweit ich sie kenne, sind ein Mißverständnis.
© In the public domain; published with the permission of the heirs of August Halm, March 2006.
© Transcription Lee Rothfarb, 2006.