Handwritten letter from Schenker to Cotta, dated May 26, 1909
Sehr geehrter Herr !
Der Abschluß des ersten Abschnittes – Mitte des Bg. 10| – giebt mir Gelegenheit, eine alte Frage neuerdings aufzurühren: ob es nicht doch zweckmäßig wäre, den Bd. II in zwei Halbbänden, oder gar in 4 Lieferungen erscheinen zu lassen, in welch letzterem Falle es nämlich schon den ersten Abschnitt allein hinauszuschicken wünschenswert wäre. Indem ich vorausschicke, daß ich unter allen Umständen Ihren Entschluß als maßgebend erkennen u. Ihren Rath aufs dankbarste annehmen werde, will ich nur einige Momente anführen, die mich zur Erneuerung des Vorschlages bestimmen.
Wie beiliegende Notiz aus der „N. Fr. Presse“ vom 23. d.M. zeigt, ist ein älteres Werk von mir in den Lehrplan der neuen K. K. Akademie aufgenommen worden, was auch ich selbst erst aus der Notiz erfahre. Diesen Erfolg, der still u. ohne Presse heraufkam, möchte ich höhe insofern höher eingeschätzt wissen, als ich in steter Fehde mit allen maßgebenden Beamten u. Musikern lebe, oder mindestens in Rufe bin, von meinen {2} scharfen Ansichten nichts zu opfern. Auch jenes opus enthält eine Menge Ausfälle u. dennoch war die Sache stärker, als die Rücksicht auf den Ruf der Lehrer. (Das Büchlein ist übrigens auch an ausländischen Konservatorien eingeführt.) H. Director Bopp, den ich persönlich gar nicht kenne, is ein starker Anhänger meiner Lehre, wie mir das der Direktor unserer „Universal-Edition“ schriftlich, u. der bekannte Komponist Prof. Heuberger mündlich zu bestätigen Gelegenheit hatten. Der erste Band, die Harmonielehre, hat auf ihn so starken Eindruck gemacht, daß er meiner Kritik der alten Kirchentonarten folgend, nach Möglichkeit bei den noch nach Bellermann’s Kontrapunkt| abgierenden KontrapunktsLehrern seiner Anstalt den Unterricht in den Kirchentonarten zu reduzieren sucht. Er war es auch, der indirekt durch den Leiter der „Universal Edition“ eine neue Ausgabe des „Wohltemperierten Klaviers“ von J. S. Bach| mit Erläuterungen bei mir bestellte, (ähnlich wie Bülow’s Ausgabe der Beeth.’schen Sonaten in Ihrem Verlage), – eine Aufgabe, die wohl zum ersten Mal zu lösen wäre. Entsprechend der großen, intensiven Arbeit stellte ich die Forderung eines hohen Honorars, das der Verlag – trotz der Bestellung des Direktors der Akademie – nicht zu zahlen in der Lage war, u. da stellte ich den Gegenvorschlag, {3} ein einzelnes Werk, ein viel, – aber[ corr ] ebenso regelmäßig schlecht gespieltes Konzertstück von S. Bach, die „chromatische Fantasie“ mit Erläuterungen neuer Art hinausgeben zu dürfen. Leider besitzt unsere “Universal-Edition“ nicht weniger als 3 Ausgaben desselben Werkes: von Bülow, Busoni, u. Röntgen, so daß sie meinen Vorschlag nicht acceptieren konnte, u. wir uns erst bei einen anderen Auftrag zu einigen konnte in der Lage waren. Dazu kommt, daß eine im Herbst vorigen Jahres[ corr ] in der „U.E.“ ausgegebene pseudonyme Arbeit von mir so starken Erfolg hatte, daß binnen 3 Wochen in Wien allein 300 Exemplare verkauft wurden u. nach 2 Monaten bereits eine 2. Auflage erscheinen müßte. (Auch eine französische u. englische Ausgabe sind in der „N. Fr. Presse“ angekündigt worden). Ich will nun mit all dem sagen, daß der Boden für meinen Bd. II immerhin ein sehr günstiger zu nennen ist.
Ich kann es als sicher voraussagen, daß der Bd. II, – da er völlig vom schwierigen Bd. I verschieden u. als Lehrbuch mit Aufgaben (auch für den Selbstunterricht) durchgeführt ist, – alle Lehrbücher dieser Disziplin schlagen wird. Insbesondere ist es ein neuer Stoff, der von den Lehrern so heiß erwartet wird: „die Über-{4}gänge zum freien Satz.“ Hier am Ende des strengen Satzes war die Verlegenheit der Lehrer am größten, wie der Schüler nun[?] in den freien Satz hinüberzuführen wäre. Mit größter Sorgfalt habe ich nun gerade diesen wichtigsten Abschnitt herausgearbeitet, mit vielen Aufgaben versehen, u.s.w.
So viel also von den psychologischen Momenten, die ein Erscheinen des Werkes in Lieferungen möglich machen könnten. Aber noch entscheidender erscheinen wenigstens mir die rein technischen Gründe. Bedenke ich, daß wegen der vielen, des Lehrzweckes aber unentbehrlichen Aufgaben, das Werk zunächst blos im Umfange des Ihnen zuzukommenen Manuscriptmateriales schon allein an 500–550 Seiten betragen wird, u. dann noch der 3-, 4-Satz (allerdings wesentlich kürzer), u. die “Übergänge zum freien Satz“ (stattlicher Abschnitt!), sowie endlich der „Freie Satz“ selbst mit sehr wichtigen Erörtungen (noch stattlicher) sammt Epilog zu folgen haben werden, so neige ich zu glauben, daß das ganze Material in einem Bande kaum vereinigt werden kann. Und gerade in dieses Werk, das sicher das Hauptwerk über {5} Contrapunkt bleiben wird, möchte ich alle Liebe des Künstlers zu seinen Material hineintun, eine Liebe, mit der ich heute so ziemlich allein bin. Vielleicht gelingt es mir doch die Prophezeiungen des H. Prof. Rudorff aus Berlin zu erfüllen, der meint, ich könnte, wenn ich so fortfahre, der neuen Jugend das bringen, was seinerzeit Winkelmann| im XVIII. Jahrh. gebracht hat: eine Erlösung von der Unkunst zur Kunst unserer Meister. Auf dem solid durchgeführten Kontrapunktsband mich stützend, werde ich leichter haben, den „Niedergang der Komposition“ hineinszuschleudern.
Ich denke, ich möchte das Alles zur Begründung meines Vorschlages sagen, – wenn ich auch gestehe, daß es mir über mich selbst zu sprechen nicht gerade angenehm fiel, (da ich weder Sänger noch Dirigent bin) u. ich am liebsten Ihnen Briefe u. Zuschriften an mich statt meiner eigenen Worte geschickt hätte.
Indem ich zum Schluß vermelde, daß ich den eventuell kritischen Bg. 10 gestern retour schickte, zeichne ich in Erwartung einer gef. Auskunft
Ihr hochachtungsvoll
ergebener
[ sign’d: ] H Schenker
26. 5. 09.
© Heirs of Heinrich Schenker, reproduced here by kind permission of the Deutsches Literaturarchiv, Cotta-Archiv (Stiftung der Stuttgarter Zeitung), Marbach am Neckar.
© Transcription Ian D. Bent 2005.